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Über sich hatte Spalko das leuchtend blaue Himmelsgewölbe, und unter ihm erstreckte sich der weite Nordatlantik: ruhelos, in ständiger, wogender Bewegung, von der Abendsonne mit rötlichem Licht übergossen. Er sah das auf den Wellen tanzende Fischerboot und in weiter Ferne die ins Meer hinausragende Halbinsel, auf der Reykjavik lag. Der Wind versuchte ständig, ihn weiter von dem Boot wegzutragen, so dass Spalko einige Zeit damit beschäftigt war, seine Abtrift mit den Steuerleinen des Fallschirms zu kompensieren. Er atmete tief durch und genoss das Gefühl, in der Luft zu schweben.

Während er im endlosen Blau des Himmelsgewölbes zu hängen schien, dachte er an die sorgfältige Planung, die Jahre voll harter Arbeit, gerissener Manöver und geschickter Manipulationen, durch die er diesen Punkt erreicht hatte, den er nun als Höhepunkt seines Lebens betrachte-te. Er dachte an sein Jahr in Amerika, im tropischen Miami, an die schmerzhaften Eingriffe, die notwendig gewesen waren, um sein zerstörtes Gesicht wiederherzustellen. Er musste sich eingestehen, dass es Spaß gemacht hatte, Annaka von seinem angeblichen Bruder zu erzählen — aber wie hätte er seinen Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt sonst erklären können? Er hätte ihr nie sagen dürfen, dass er eine leidenschaftliche Affäre mit ihrer Mutter gehabt hatte. Es war kinderleicht gewesen, die Ärzte und das Pflegepersonal zu bestechen, damit sie ihn mit der Patientin ungestört sein ließen. Wie völlig korrupt die Menschen doch sind, überlegte Spalko sich. Ein Großteil seines Erfolgs beruhte darauf, dass er diese Tatsache skrupellos ausgenützt hatte.

Was für eine außergewöhnliche Frau Sasa gewesen war! Er hatte niemals einen ähnlich wundervollen Menschen kennen gelernt. So war es ganz natürlich gewesen, dass er angenommen hatte, Annaka werde ihrer Mutter nachschlagen. Natürlich war er damals viel jünger gewesen, und seine jugendliche Torheit war entschuldbar.

Wie hätte Annaka wohl reagiert, fragte er sich, wenn er ihr die Wahrheit gesagt hätte: dass er als junger Mann der Sklave eines Gangsterbosses — einer rachsüchtigen, sadistischen Bestie — gewesen war, der ihn zu einer Vendetta losgeschickt hatte, obwohl er genau gewusst hatte, dass er Spalko in eine Falle schickte. Sie war zugeschnappt… und Spalkos Gesicht war das Ergebnis gewesen. Später hatte er sich an Wladimir gerächt, aber nicht auf die heldenhafte Weise, die er Sina geschildert hatte. Was er getan hatte, war wenig ehrenhaft gewesen, aber damals hatte er noch nicht selbstständig handeln können. Ganz im Gegensatz zu jetzt.

Spalko war noch über hundertfünfzig Meter hoch, als der Wind plötzlich scharf drehte. Er begann vom Boot abgetrieben zu werden, und betätigte die Steuerleinen, um die Abtrift zu verringern. Trotzdem gelang es ihm nicht, auf Gegenkurs zu gehen. Unter sich sah er Bewegung an Bord des Fischerboots und wusste, dass die Besatzung seinen Absprung aufmerksam beobachtete. Das Boot nahm Fahrt auf und begann ihm zu folgen.

Der Horizont wurde enger, und nun kam das Meer rasch näher, füllte sein gesamtes Blickfeld aus, als die Perspektive sich änderte. Der Wind schlief in einer Böenpause plötzlich fast ein, und Spalko wasserte, indem er den Schirm im letzten Augenblick so eindrehte, dass er fast ohne Spritzer eintauchte.

Er glitt mit den Beinen voraus ins Wasser, das ganz über ihm zusammenschlug. Obwohl er mental darauf vorbereitet war, traf der durch das eiskalte Wasser bewirkte Schock ihn wie ein Hammerschlag und raubte ihm den Atem. Das Gewicht des Kühlbehälters wollte ihn in die Tiefe ziehen, aber er glich es mit kräftigen, geübten Scherenschlägen aus. Dann tauchte er auf, warf den Kopf in den Nacken und atmete tief durch, während er sich von dem Gurtzeug befreite.

Im Wasser konnte Spalko das mahlende Geräusch der Schraube des Fischerboots hören und schwamm in diese Richtung, ohne auch nur hinzusehen. Aber die See ging so hoch, dass er seinen Versuch, dem Boot entgegenzuschwimmen, bald aufgeben musste. Bis das Fahrzeug längsseits kam, war er fast völlig erschöpft. Ohne den Überlebensanzug, das wusste er, wäre er bereits an Unterkühlung gestorben.

Ein Mann der Besatzung warf ihm eine Leine zu, wäh-rend ein anderer eine Strickleiter über Bord hängte. Spalko bekam die Leine zu fassen und klammerte sich daran fest, als sie eingeholt wurde, und erreichte so die Strickleiter. Er stieg sie hinauf und spürte, wie das Meer bis zum letzten Augenblick an ihm zerrte.

Eine kräftige Hand griff nach ihm und zog ihn an Bord. Spalko hob den Kopf und sah ein Gesicht mit durchdringend blauen Augen unter einem blonden Haarschopf.

«La illaha ill Allah«, sagte Hassan Arsenow.»Willkommen an Bord, Scheich.«

Spalko blieb stehen, während Besatzungsmitglieder ihn in wärmende Decken hüllten. »La illaha ill Allah«, antwortete er.»Ich hätte dich beinahe nicht erkannt.«

«Ich mich fast auch nicht«, sagte Arsenow,»als ich nach dem Haarfärben in den Spiegel gesehen habe.«

Spalko sah ihm scharf ins Gesicht.»Wie kommst du mit den Kontaktlinsen zurecht?«

«Mit denen hat keiner von uns Schwierigkeiten. «Ar-senow konnte den Blick nicht von dem Kühlbehälter wenden, den der Scheich sich ans Handgelenk gekettet hatte.»Du hast es mitgebracht!«

Spalko nickte. Ein Blick über Arsenows Schulter hinweg zeigte ihm Sina, die, von der untergehenden Sonne beschienen, am Ruderhaus stand. Ihr goldenes Haar wehte im Wind, und ihre kobaltblauen Augen erwiderten seinen Blick mit glühender Intensität.

«Nehmt wieder Kurs auf die Küste«, wies Spalko die Besatzung an.»Ich will mich umziehen.«

Er ging in die vordere Kajüte hinunter, in der auf einer Koje warme Kleidung für ihn bereitlag. Davor standen feste schwarze Schuhe an Deck. Spalko sperrte das

Kettenschloss auf und legte den Kühlbehälter auf die Koje. Während er seine klatschnassen Sachen und den Überlebensanzug abstreifte, untersuchte er seine Handgelenke, um zu sehen, wie stark sie von der Dichtmanschette aufgeschürft waren. Dann rieb und knetete er seine Hände, bis der Blutkreislauf wieder in Gang kam.

Während er noch dabei war, wurde die Tür hinter ihm rasch geöffnet und ebenso rasch wieder geschlossen. Er drehte sich nicht um, brauchte nicht nachzusehen, wer die Kajüte betreten hatte.

«Lass mich dich aufwärmen«, flötete Sina zuckersüß.

Im nächsten Augenblick spürte er den sanften Druck ihrer Brüste, die Hitze ihres Unterleibs an Rücken und Gesäß. Das Hochgefühl nach dem erfolgreichen Fallschirmsprung erfüllte ihn noch immer. Gesteigert wurde es durch die endgültige Auflösung seiner langen Beziehung zu Annaka Vadas, die Sinas Annäherungsversuch unwiderstehlich machte.

Er drehte sich um, setzte sich auf den Rand der Koje und ließ zu, dass sie ihn bestieg und mit Armen und Beinen umschlang. Sina glich einem brünstigen Tier. Er sah das Glitzern ihrer Augen, hörte die tief aus ihrem Inneren kommenden kehligen Laute. Sie verlor sich an ihn, und er war für den Augenblick befriedigt.

Rund eineinhalb Stunden später war Jamie Hull unterhalb der Straßenebene dabei, die Sicherheit der Lieferantenzufahrt des Hotels Oskjuhlid zu überprüfen, als er auf den Genossen Boris aufmerksam wurde. Der russische Sicherheitschef spielte den Überraschten, aber Hull ließ sich nicht täuschen. Er hatte das Gefühl, Boris beschatte ihn in letzter Zeit häufig, aber vielleicht litt er nur an Verfolgungswahn. Der wäre allerdings gerechtfertigt gewesen. Alle Teilnehmer des Gipfeltreffens waren im Hotel. Morgen um acht Uhr würde der Terrorismusgipfel und damit die Zeit der höchsten Gefährdung beginnen. Hull fürchtete, Genosse Boris habe Wind davon bekommen, was Fahd al-Sa’ud entdeckt, was der arabische Sicherheitschef und er ausgeheckt hatten.