Spalko verstummte, als der Sicherheitsbeamte, den diese Informationen aus einem Reiseführer unsäglich langweilten, sich abwandte und davonging. Er machte sich sofort an die Arbeit, setzte die kleine Scheibe auf zwei Kabel und drückte kräftig darauf, bis er bestimmt wusste, dass ihre vier Kontakte die Isolierung durchstoßen hatten.
«Hier bin ich fertig«, sagte er und knallte die Tür des Schaltschranks zu.
«Wohin jetzt? Zum Fernwärmeverteiler?«, fragte der Wachmann, der sich sichtlich wünschte, seine Schicht wäre bald zu Ende.
«Nö«, sagte Spalko,»muss erst mit dem Boss reden. Ich gehe zum Wagen zurück. «Er winkte, als er sich in Bewegung setzte, aber der Sicherheitsbeamte ging bereits in Gegenrichtung davon.
Spalko kehrte zu ihrem Wagen zurück, stieg ein und blieb neben dem Fahrer sitzen, bis ein Wachmann herangeschlendert kam.
«Okay, Jungs, was ist los?«
«Für diesmal sind wir fertig. «Spalko lächelte gewinnend, während er auf seinem angeblichen Arbeitsblatt einige sinnlose Eintragungen machte. Dann sah er auf seine Uhr.»Wir waren länger hier, als ich dachte. Danke, dass Sie uns geholfen haben.«
«He, das ist mein Job.«
Als der Fahrer den Motor anließ und den ersten Gang einlegte, sagte Spalko:»Da siehst du, wie wertvoll ein Probelauf ist. Wir haben genau eine halbe Stunde Zeit, bevor sie sich auf die Suche nach uns machen.«
Der zweistrahlige Businessjet raste durch den Nachthimmel. Bourne gegenüber saß Chan, der starr geradeaus blickte, ohne etwas Bestimmtes anzusehen. Bourne schloss die Augen. Die Deckenbeleuchtung war ausgeschaltet. Im Halbdunkel warfen nur einige Leselampen ovale Lichtflecken auf leere Sessel. In einer Stunde würden sie auf dem Flughafen Keflavik landen.
Bourne saß unbeweglich da. Am liebsten hätte er den Kopf in die Hände gestützt und bittere Tränen über die Sünden der Vergangenheit geweint, aber da Chan ihm gegenübersaß, durfte er sich nichts erlauben, was als Schwäche gedeutet werden konnte. Der vorläufige Waffenstillstand, auf den sie sich geeinigt hatten, erschien ihm zerbrechlich wie eine Eierschale. Es gab so viele Dinge, die das Potenzial besaßen, ihn zu zerquetschen. Emotionen wühlten Bourne innerlich auf, machten ihm das Atmen schwer. Die Schmerzen, die er überall an seinem gemarterten Körper spürte, waren nichts im Vergleich zu der Pein, die sein Herz zu zerreißen drohte. Er umklammerte die Sitzlehnen mit solcher Gewalt, dass seine Fingergelenke knackten. Er wusste, dass er sich unbedingt beherrschen musste, genau wie er wusste, dass er keinen Augenblick länger auf seinem Platz verharren konnte.
Er stand auf, überquerte den Mittelgang wie ein Schlafwandler und ließ sich in dem Sessel neben Chan nieder. Der junge Mann gab durch nichts zu erkennen, dass er seine körperliche Nähe spürte. Wäre seine rasche Atemfrequenz nicht gewesen, hätte er sich in einem Zustand tiefer Meditation befinden können.
Während sein Herz schmerzhaft gegen die gebrochenen Rippen hämmerte, sagte Bourne leise:»Wenn du mein Sohn bist, muss ich Gewissheit haben. Verstehst du — absolute Gewissheit.«
«Mit anderen Worten, du glaubst mir nicht.«
«Ich will dir glauben«, sagte Bourne, indem er sich bemühte, die inzwischen vertraute Schärfe in Chans Stimme zu überhören.»Das müsstest du wissen.«
«Was dich betrifft, weiß ich weniger als gar nichts. «Als Chan sich ihm jetzt zuwandte, war sein Gesicht von mühsam beherrschter Wut verzerrt.»Kannst du dich überhaupt nicht an mich erinnern?«
«Joshua war damals sechs, noch ein Kind. «Bourne fühlte einen Kloß im Hals, der sich nicht hinunterschlucken ließ.»Und ich habe vor einigen Jahren das Gedächtnis verloren.«
«Das Gedächtnis verloren?«Diese Mitteilung schien Chan zu verblüffen.
Bourne erzählte, was ihm zugestoßen war.»Ich kann mich nur an Bruchstücke meines Lebens als Jason Bourne vor diesem Zeitpunkt erinnern«, schloss er,»und an praktisch nichts aus meinem Leben als David Webb. Nur manchmal stößt ein Geruch oder eine Stimme etwas an, das ein weiteres Fragment an die Oberfläche steigen lässt. Aber mehr als ein Bruchstück des für mich verschütteten Ganzen ist’s nie.«
Im schwachen Licht der Kabinenbeleuchtung suchte er Chans dunkle Augen, suchte die Spur eines Ausdrucks, selbst den geringsten Hinweis darauf, was Chan vielleicht fühlte oder dachte.»Das ist die Wahrheit. Wir sind einander völlig fremd. Bevor wir also weitermachen…«Er brachte den Satz nicht zu Ende, konnte im Augenblick nicht weitersprechen. Aber dann gab er sich einen Ruck und zwang sich dazu, weil die Stille, die sich so rasch zwischen ihnen ausbreitete, schlimmer war als die Explosion, die bestimmt kommen würde.»Versuch bitte, mich zu verstehen. Ich brauche einen Beweis, etwas Unwiderlegbares.«
«Scheißkerl!«
Chan stand auf, um an Bourne vorbei auf den Gang zu treten, aber wie in Spalkos Folterkammer hielt ihn etwas zurück. Und dann glaubte er plötzlich wieder, Bournes Stimme auf dem Dach von Annakas Haus in Budapest zu hören:»Darauf legst du’s an, was? Diese ganze verrückte Geschichte, dass du Joshua sein sollst… Ich denke gar nicht daran, dich zu diesem Spalko oder sonst jemandem zu führen. Ich lasse mich von niemandem mehr als Werkzeug missbrauchen.«
Chan umfasste den aus Stein geschnittenen Buddha an seiner Halskette und setzte sich wieder. Stepan Spalko hatte sie beide als Werkzeug missbraucht. Es war Spalko gewesen, der sie zusammengeführt hatte, und eine Ironie des Schicksals wollte es, dass ihre gemeinsame Feindschaft Spalko gegenüber sie wenigstens vorerst geeint hatte.
«Es gibt etwas«, sagte er mit einer Stimme, die er selbst kaum erkannte.»Einen wiederkehrenden Albtraum, in dem ich unter Wasser bin. Ich werde ertränkt, in die Tiefe gezogen, weil ich an ihre Leiche gefesselt bin. Sie ruft mich. Ich höre ihre Stimme rufen — oder meine Stimme, die sie ruft.«
Bourne erinnerte sich daran, wie Chan in der Donau um sich geschlagen, wie er in seiner Panik in eine Strömung geraten war, die ihn in die Tiefe gezogen hätte.»Was sagt die Stimme?«
«Es ist meine Stimme. Ich sage: >Li-Li, Li-Li.<«
Bourne hatte das Gefühl, sein Herz setze einen Schlag aus, denn aus den Tiefen seiner eigenen verschütteten Erinnerung stieg Li-Li auf. Einen kostbaren Augenblick lang konnte er ihr ovales Gesicht mit den hellen Augen und Daos glattem schwarzem Haar sehen.»O Gott«, flüsterte Bourne.»Li-Li war Joshuas Kosename für Alys-sa. Nur er hat sie so genannt. Außer uns vieren hat niemand davon gewusst.«
Li-Li.
«Eine meiner stärksten Erinnerungen, die ich mit professioneller Hilfe zurückgewonnen habe, betrifft das Verhältnis zwischen euch Geschwistern — wie deine Schwester dich bewundert hat«, fuhr Bourne fort.»Sie wollte immer und überall in deiner Nähe sein. Wenn sie nachts schlecht geträumt hat, konntest nur du sie beruhigen. Du hast sie Li-Li genannt und sie dich Joshy.«
Meine Schwester, ja. Li-Li. Chan schloss die Augen und befand sich sofort im trüben Wasser des Flusses in Phnom Penh. Dem Ertrinken nahe, unter Schock stehend, hatte er sie auf sich zutreiben gesehen: die von Kugeln durchsiebte Leiche seiner kleinen Schwester. Li-Li. Vier Jahre alt. Tot. Ihre hellen Augen — Daddys Augen — starrten ihn blicklos, anklagend an. Warum du? schienen sie zu fragen. Warum du und nicht ich? Aber er wusste, dass das die Stimme seines schlechten Gewissens war. Hätte Li-Li sprechen können, hätte sie gesagt: Ich bin froh, dass du nicht gestorben bist, Joshy. Ich bin glücklich, dass einer von uns bei Daddy bleiben kann.
Chan verbarg sein Gesicht in den Händen und wandte sich dem ovalen Fenster zu. Er wollte sterben, er wünschte sich, er wäre im Fluss gestorben und Li-Li hätte an seiner Stelle überlebt. Er konnte dieses Leben keine Sekunde länger ertragen. Was hatte er schließlich noch von ihm zu erwarten? Im Tod wäre er wenigstens wieder mit ihr vereint gewesen…