Выбрать главу

«Chan.«

Das war Bournes Stimme. Aber er konnte es nicht ertragen, sich im zuzuwenden, ihm in die Augen zu sehen. Er hasste ihn, und er liebte ihn. Er konnte nicht begreifen, wie das möglich war; er war schlecht darauf vorbereitet, sich mit dieser emotionalen Anomalie auseinander zu setzen. Mit einem erstickten Laut stand er auf, zwängte sich an Bourne vorbei und stolperte in der Kabine nach vorn, um ihn nicht mehr sehen zu müssen.

Mit unsäglichem Kummer beobachtete Bourne, wie sein Sohn vor ihm flüchtete. Er musste fast übermenschliche Beherrschung aufbringen, um den Drang zu unterdrücken, ihn aufzuhalten, ihn in die Arme zu schließen und an seine Brust zu drücken. Aber er spürte, dass er im Augenblick nichts Ungeschickteres hätte tun können, dass diese natürliche Regung angesichts Chans Vorgeschichte zu erneuter Gewalt zwischen ihnen hätte führen können.

Er hegte keine Illusionen. Sie hatten beide einen steinigen Weg vor sich, bevor sie einander als Vater und Sohn anerkennen konnten. Vielleicht war das sogar eine unlösbare Aufgabe. Aber weil es nicht seine Angewohnheit war, etwas für unmöglich zu halten, verdrängte er diese beängstigende Vorstellung.

Vor Seelenqual erschauernd wurde ihm bewusst, warum er so angestrengt versucht hatte, die Möglichkeit zu leugnen, Chan könnte sein Sohn sein. Annaka — der Teufel sollte sie holen — hatte sein Dilemma genau erkannt.

In diesem Augenblick sah er auf. Chan stand über ihm, und seine Hände umklammerten die Sitzlehne, als ginge es ums liebe Leben.

«Du hast gesagt, dass du erst vor kurzem erfahren hast, dass ich als vermisst gegolten habe.«

Bourne nickte.

«Wie lange hat man mich gesucht?«, fragte Chan.

«Du weißt, dass ich diese Frage nicht beantworten kann. Das kann niemand. «Bourne log instinktiv. Wenn er Chan erzählte, dass die zuständigen Stellen nur eine Stunde lang gesucht hatten, war damit nichts zu gewinnen, aber vielleicht viel zu verlieren. Er empfand das starke Bedürfnis, seinen Sohn vor der Wahrheit zu beschützen.

Über Chan war eine bedrohliche Stille gekommen, als bereite er sich darauf vor, etwas zu tun, das schreckliche Folgen haben konnte.»Warum hast du mich nicht selbst gesucht?«

Bourne hörte seinen anklagenden Tonfall und saß da wie vor den Kopf geschlagen. Das Blut drohte ihm in den Adern zu gefrieren. Seit ihm klar geworden war, dass Chan Joshua sein könnte, hatte auch er sich diese Frage gestellt.

«Ich war halb wahnsinnig vor Kummer und Schmerz«, sagte er,»aber das reicht nachträglich nicht als Entschuldigung. Ich konnte mir nicht eingestehen, dass ich euch allen gegenüber als Familienvater versagt hatte.«

Chans Gesichtsausdruck veränderte sich leicht, als durchzucke ihn ein schmerzlicher Gedanke.»Du musst.

Schwierigkeiten gehabt haben, als du mit meiner Mutter in Phnom Penh gelebt hast.«

«Wie meinst du das?«Bourne beunruhigten Chans Worte, und er sprach in einem Tonfall, der vielleicht schärfer war als angebracht.

«Das weißt du. Haben deine Kollegen nicht über dich gelästert, weil du eine Thai geheiratet hattest?«

«Ich habe Dao von ganzem Herzen geliebt.«

«Marie ist keine Thai, stimmt’s?«

«Chan, wir suchen es uns nicht aus, in wen wir uns verlieben.«

Nun folgte eine kurze Pause, dann sagte Chan in der zwischen ihnen herrschenden gespannten Stille lässig, als sei ihm dieser Gedanke nachträglich gekommen:»Und dann war da natürlich das Problem mit deinen beiden Mischlingskindern.«

«So habe ich’s nie gesehen«, sagte Bourne ausdruckslos. Das Herz wollte ihm brechen, denn er hörte den stummen Aufschrei unter all diesen Fragen.»Ich habe Dao geliebt, ich habe Alyssa und dich geliebt. Mein Gott, ihr wart mein Leben! In den Wochen und Monaten danach habe ich fast den Verstand verloren. Ich war am Boden zerstört, wusste nicht, ob ich weiterleben wollte. Wäre ich Alex Conklin nicht begegnet, hätte ich vielleicht Schluss gemacht. Und auch dann hat es jahrelange Schwerarbeit gekostet, wieder einigermaßen auf die Beine zu kommen.«

Er verstummte sekundenlang, hörte sie beide schwer atmen. Dann holte er tief Luft und sagte:»Ich habe immer geglaubt, immer mit der Tatsache gekämpft, dass ich hätte da sein sollen, um euch zu beschützen.«

Chan betrachtete ihn lange, aber die Spannung hatte sich gelöst, ein Rubikon war nun überschritten.»Du hättest nichts tun können, du wärst auch umgekommen.«

Er wandte sich ohne ein weiteres Wort ab, und während er das tat, sah Bourne Dao in seinen Augen und wusste, dass seine Welt sich tief greifend verändert hatte.

Kapitel achtundzwanzig

Wie in fast jeder Großstadt der Welt gab es auch in Reykjavik jede Menge Schnellimbisse, und wie die besseren Restaurants bekamen auch diese kleinen Betriebe jeden Tag frisches Fleisch, Fisch, Obst und Gemüse geliefert. Die Firma Hajnarßördur Obst & Gemüse gehörte zu den wichtigsten Lieferanten der Schnellgastronomie in Reykjavik. Der Wagen der Firma, der früh an diesem Morgen vor dem Kebab Höllin im Stadtzentrum vorfuhr, um Blattsalat, Perlzwiebeln und Schalotten zu liefern, gehörte zu den vielen, die auf ihren täglichen Runden in der ganzen Stadt unterwegs waren. Der entscheidende Unterschied war jedoch, dass dieser spezielle Lieferwagen im Gegensatz zu den anderen nicht von Hajnarßördur Obst & Gemüse geschickt worden war.

Am frühen Abend wurden alle drei Häuser der Universitätsklinik Landspitali von Leuten belagert, die zunehmend kränker wurden. Die Ärzte nahmen diese Patienten in beängstigender Zahl auf, noch während ihr Blut untersucht wurde. Zwei Stunden später stand dann fest, dass die Großstadt mit einem seuchenartigen Ausbruch von Hepatitis A konfrontiert war.

Die Gesundheitsbehörde unternahm hektische Anstrengungen, um der eskalierenden Krise Herr zu werden. Ihre Arbeit wurde durch mehrere wichtige Faktoren behindert: die Schnelligkeit und Schwere des Befalls mit einem besonders ansteckenden Virustyp; die Schwierigkei-ten, die es machte, die Lebensmittel zu ermitteln und aufzuspüren, durch die das Virus verbreitet worden sein konnte; und das unausgesprochene, aber stets gegenwärtige Bewusstsein, dass Reykjavik wegen des Terrorismusgipfels gegenwärtig im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit stand. Ganz oben auf der Liste mit verdächtigen Lebensmitteln standen Schalotten, die in letzter Zeit in den Vereinigten Staaten mehrmals Ausbrüche von Hepatitis A hervorgerufen hatten — aber Schalotten wurden in der hiesigen Gastronomie überall verwendet, und natürlich durfte man Fisch oder Fleisch nicht ausschließen.

Die Verantwortlichen arbeiteten bis in die dämmrige Nacht hinein, befragten die Chefs aller Firmen, die Frischgemüse lieferten, und schickten ihre Leute los, um die Lagerhäuser und Fahrzeuge dieser Firmen — auch von Hajnarßördur Obst & Gemüse — zu untersuchen. Zu ihrer großen Überraschung und Enttäuschung zeigte sich jedoch, dass dort alles in Ordnung war, und während die Stunden verrannen, mussten sie sich eingestehen, dass sie der Quelle des Virusbefalls keinen Schritt näher gekommen waren.

Deshalb ging die Gesundheitsbehörde kurz nach einundzwanzig Uhr mit ihren Erkenntnissen an die Öffentlichkeit. In Reykjavik war massenhaft Hepatitis A ausgebrochen. Weil die Infektionsquelle noch nicht gefunden war, wurde die Stadt unter Quarantäne gestellt. Über den Köpfen aller hing das Schreckgespenst einer regelrechten Epidemie, die sie sich nicht leisten konnten, weil der Terrorismusgipfel bevorstand und die Aufmerksamkeit der gesamten Welt auf die isländische Hauptstadt gerichtet war. In ihren Rundfunk- und Fernsehinterviews bemühten die Verantwortlichen sich, den beunruhigten

Menschen zu versichern, dass alle Maßnahmen ergriffen würden, um das Virus unter Kontrolle zu bekommen. Zu diesem Zweck, das betonten sie wiederholt, stelle die Gesundheitsbehörde ihr gesamtes Personal in den Dienst der auch künftig garantierten Sicherheit der Allgemeinheit.