Es war kurz vor zweiundzwanzig Uhr, als Jamie Hull aufgeregt und nervös den Hotelflur zur Suite des Präsidenten entlang marschierte. Erst hatte es diesen plötzlichen Ausbruch von Hepatitis A gegeben, über den man sich Sorgen machen musste, und dann war er ohne Vorwarnung zu einer Besprechung mit dem Präsidenten zitiert worden.
Hull sah sich um und erkannte die Secret-Service-Agenten, die den Präsidenten bewachten. Weiter hinten im Korridor bewachten russische FSB-Agenten und arabische Geheimdienstler ihre Staatsoberhäupter, die mit ihren engsten Mitarbeitern praktischerweise im selben Gebäudeflügel untergebracht waren.
Er ging durch die von zwei Secret-Service-Agenten — riesig und schweigsam wie Sphinxe — flankierte Tür und betrat die Suite. Der Präsident tigerte ruhelos auf und ab und diktierte zwei Redenschreibern ein Konzept, während sein Pressesprecher sich hastig Notizen auf einem Laptop machte. Drei weitere Secret-Service-Agenten waren in der Suite verteilt, um den Präsidenten von den Fenstern fern zu halten.
Hull wartete ungeduldig, aber ohne Protest, bis der Präsident seine Mitarbeiter entließ, die wie Mäuse nach nebenan huschten.
«Jamie«, sagte der Präsident mit breitem Lächeln und ausgestreckter Hand.»Nett von Ihnen, dass Sie gekommen sind. «Er drückte Hull die Hand, bot ihm mit einer Handbewegung einen Sessel an und setzte sich ihm gegenüber.
«Jamie, ich zähle darauf, dass Sie alles tun werden, damit das Gipfeltreffen reibungslos über die Bühne geht«, begann er.
«Sir, ich kann Ihnen versichern, dass ich alles unter Kontrolle habe.«
«Auch Karpow?«
«Sir?«
Der Präsident lächelte.»Wie ich höre, hat’s zwischen Mr. Karpow und Ihnen reichlich Zoff gegeben.«
Hull schluckte krampfhaft und fragte sich, ob er herbeizitiert worden war, um entlassen zu werden.»Es hat kleinere Meinungsverschiedenheiten gegeben«, sagte er zögernd,»aber die sind längst vergessen.«
«Freut mich, das zu hören«, sagte der Präsident.»Ich habe schon genügend Schwierigkeiten mit Alexander Jew-tuschenko. Da kann ich’s nicht brauchen, dass er sauer ist, weil sein Sicherheitschef sich herabgesetzt fühlt. «Er klatschte sich auf die Oberschenkel und stand auf.»Also, die Show beginnt morgen früh um acht. Bis dahin gibt’s noch einiges zu tun. «Er streckte die Hand aus, als Hull sich erhob.»Jamie, keiner weiß besser als ich, wie gefährlich diese Situation werden kann. Aber ich denke, wir sind uns darüber einig, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt.«
Draußen auf dem Korridor klingelte sein Handy.
«Jamie, wo sind Sie?«, blaffte der CIA-Direktor ihm ins Ohr.
«Ich komme gerade aus einer Besprechung mit dem Präsidenten. Er hat befriedigt zur Kenntnis genommen, dass ich alles unter Kontrolle habe — auch den Genossen Karpow.«
Statt erfreut zu reagieren, sprach der Direktor in nervös angespanntem Tonfall weiter.»Jamie, hören Sie mir gut zu. Es gibt einen neuen Aspekt dieser Situation, den ich nur Ihnen mitteile, weil Sie darüber Bescheid wissen müssen.«
Hull sah sich automatisch um und entfernte sich rasch außer Hörweite der Secret-Service-Agenten.»Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen, Sir.«
«Es handelt sich um Jason Bourne«, sagte der Alte.»Er ist nicht in Paris umgekommen.«
«Was?«Hull war einen Augenblick lang fassungslos.»Bourne lebt!«
«Er ist gesund und munter. «Der Direktor machte eine bedeutungsvolle Pause.»Jamie, damit wir uns richtig verstehen: Diesen Anruf, dieses Gespräch hat es nie gegeben. Sollten Sie jemandem davon erzählen, bestreite ich, Sie angerufen zu haben, und Sie fliegen mit einem Tritt in den Hintern raus. Ist das klar?«
«Völlig, Sir.«
«Ich habe keine Ahnung, was Bourne als Nächstes vor hat, aber ich habe schon immer vermutet, dass er zu Ihnen unterwegs sein könnte. Ob er Alex Conklin und Mo Panov ermordet hat, steht vielleicht nicht fest, aber Kevin McColl hat er garantiert umgelegt.«
«Jesus, ich habe McColl gekannt, Sir.«
«Wir haben ihn alle gekannt, Jamie. «Der Alte räusperte sich.»Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Tat un-gesühnt bleibt.«
Hulls Zorn verschwand schlagartig und machte einer Hochstimmung Platz.»Überlassen Sie das mir, Sir.«
«Aber seien Sie vorsichtig, Jamie. In erster Linie sind Sie für die Sicherheit des Präsidenten zuständig.«
«Ich verstehe, Sir. Unbedingt. Aber ich garantiere Ihnen, dass Jason Bourne das Hotel nicht wieder verlässt, falls er hier aufkreuzt.«
«Nun, hoffentlich doch«, sagte der Alte,»aber mit den Füßen voraus.«
Zwei Angehörige des Tschetschenen teams warteten vor dem Kastenwagen von Reykjavik Energy, als das zum Hotel Oskjuhlid entsandte Fahrzeug der Gesundheitsbehörde um die Ecke bog. Ihr Wagen versperrte die Durchfahrt, und sie hatten orangerote Kunststoffkegel aufgestellt und schienen dabei zu sein, eine Stelle, die aufgegraben werden sollte, mit Kreidestrichen zu markieren.
Der Wagen der Gesundheitsbehörde bremste abrupt.
«He, was macht ihr da?«, fragte der Fahrer.»Wir sind im Notfalleinsatz.«
«Verpiss dich, kleiner Scheißer!«, antwortete einer der Tschetschenen auf Isländisch.
«Was hast du gesagt?«Der aufgebrachte Fahrer stieg aus dem Wagen.
«Bist du blind? Unsere Arbeit hier ist wichtig«, sagte der Tschetschene.»Sucht euch ’ne andere beschissene Zufahrt.«
Als der Beifahrer merkte, dass die Situation zu eskalieren drohte, stieg er ebenfalls aus. Arsenow und Sina, bewaffnet und grimmig entschlossen, sprangen aus dem Fahrzeug von Reykjavik Energy und trieben die rasch eingeschüchterten Mitarbeiter der Gesundheitsbehörde hinten in den Kastenwagen.
Arsenow, Sina und ein weiteres Mitglied des Teams fuhren mit dem erbeuteten Wagen vor dem Lieferanteneingang des Hotels Oskjuhlid vor. Der vierte Tschetschene war mit dem Fahrzeug von Reykjavik Energy unterwegs, um Spalko und das restliche Team abzuholen.
Sie trugen die Overalls von Außendienstmitarbeitern der Gesundheitsbehörde und wiesen sich bei der Kontrolle durch die wachhabenden Sicherheitsbeamten mit staatlichen Dienstausweisen aus, die Spalko für teures Geld beschafft hatte. Als Arsenow befragt wurde, antwortete er auf Isländisch und wechselte dann zu holperigem Englisch über, weil die amerikanischen und arabischen Sicherheitsbeamten ihn nicht verstanden. Er behauptete, sie sollten überprüfen, ob die Hotelküche frei von Hepatitis A sei. Niemand — erst recht die verschiedenen Sicherheitsteams nicht — wollte, dass einer ihrer Schützlinge sich mit dem gefürchteten Virus ansteckte. Daher wurden die drei schleunigst eingelassen und bekamen den Weg zur Hotelküche erklärt. Das Teammitglied begab sich dorthin, aber Arsenow und Sina hatten andere Ziele im Visier.
Bourne und Chan waren noch dabei, die Pläne der verschiedenen Versorgungssysteme des Hotels Oskjuhlid zu studieren, als der Pilot ihre bevorstehende Landung auf dem Flughafen Keflavik ankündigte. Bourne war auf und ab gegangen, während Chan das Notebook auf den Knien hielt, und nahm nun widerstrebend Platz. Sein ganzer Körper schmerzte, und die beengten Sitzverhältnisse in der kleinen Maschine hatten diesen Zustand nur verschlimmert. Er hatte sich bemüht, seine Gefühle im Zusammenhang mit der Rückkehr des verlorenen Sohns zu unterdrücken. Ihre Gespräche waren unbeholfen genug, und er hatte deutlich den Eindruck, Chan werde vor jeder starken Gefühlsregung, die er sich anmerken ließ, instinktiv zurückschrecken.
Der Prozess, auf eine Versöhnung hinzuarbeiten, war für beide ungeheuer schwierig. Für Chan vielleicht noch schwerer, vermutete Bourne. Was ein Sohn von seinem Vater brauchte, war weitaus komplexer als das, was ein Vater von seinem Sohn brauchte, um ihn vorbehaltlos lieben zu können.