Chalid Murat bestimmt gewusst hatte: dass diese neue Welt nur eine Illusion war, die der Mann, der sich mit dem Ehrentitel Scheich anreden ließ, erschaffen hatte. Arsenow hatte an dieses Hirngespinst geglaubt, weil er daran hatte glauben wollen. Und Spalko hatte diese Schwäche ausgenützt. Aber damit ist jetzt Schluss! schwor Arsenow sich. Endgültig! Sollte er hier und heute sterben müssen, dann würde er das zu seinen eigenen Bedingungen tun, statt sich von Spalko wie ein Lamm zur Schlachtbank führen zu lassen.
Er rückte dicht an den Türrahmen heran, holte tief Luft, atmete langsam aus und katapultierte sich gleichzeitig mit einem Hechtsprung an der offenen Tür vorbei. Der sofort einsetzende Kugelhagel sagte ihm alles, was er wissen musste. Nachdem er sich abgerollt hatte, blieb er auf dem Betonboden und kroch zur Tür zurück. Er sah den Wachposten mit einer Maschinenpistole im Hüftan-schlag und traf ihn mit vier Schüssen in die Brust.
Bourne lief ein kalter Schauder über den Rücken, als er die beiden Terroristen sah, die in ABC-Schutzanzügen hinter einem Betonpfeiler standen und abwechselnd Feuerstöße aus ihren Maschinenpistolen abgaben. Chan und er gingen hinter einer Abzweigung des Korridors in Deckung, und Bourne erwiderte das Feuer.
«Spalko ist mit der Biowaffe in diesem Raum«, sagte er.»Wir müssen unbedingt dort rein.«
«Aber nicht bevor diese beiden ihre Munition verschossen haben. «Chan sah sich um.»Hast du die Pläne im Kopf? Weißt du, was über der Deckenverkleidung liegt?«
Bourne schoss erneut, dann nickte er.
«Sechs, acht Meter hinter uns ist eine Luke in die Decke eingelassen«, sagte Chan.»Du musst mir hinaufhelfen.«
Bourne gab einen weiteren Feuerstoß ab, bevor er sich mit Chan zurückzog.
«Kannst du dort oben was sehen?«, fragte er.
Chan nickte, indem er auf seine Jacke mit den vielen Taschen zeigte.»Ich habe eine kleine Stablampe… und noch einiges in petto.«
Mit der MP unter dem Arm faltete Bourne die Hände, damit Chan einen Fuß hineinstellen konnte. Seine Knochen schienen unter Chans Gewicht zu knacken, und die gezerrten Bänder in seiner Schulter brannten wie Feuer. Dann schob Chan die Abdeckung zur Seite und stemmte sich durch die Luke nach oben.
«Zeit?«, fragte Bourne.
«Fünfzehn Sekunden«, antwortete Chan und verschwand.
Bourne kehrte um. Er zählte langsam bis zehn, dann stürmte er schießend um die Ecke. Aber er machte fast augenblicklich wieder Halt. Er konnte spüren, wie sein Herz schmerzhaft gegen seine Rippen hämmerte. Die beiden Tschetschenen hatten ihre Schutzanzüge abgestreift. Sie waren hinter dem Betonpfeiler hervorgekommen und standen ihm auf dem Korridor gegenüber. Bourne erkannte jetzt, dass er Frauen vor sich hatte, die Gürtel mit untereinander verbundenen Sprengstoffpäckchen um die Taille trugen.
«Jesus!«, sagte Bourne.»Chan! Sie tragen Sprengstoffgürtel!«
Im nächsten Augenblick wurde es um sie herum schlagartig dunkel. Chan, der durch den Kabelkanal über ihm kroch, hatte die Leitung durchtrennt.
Kaum war der letzte Schuss verhallt, da sprang Arsenow auf und spurtete los. Er war mit einem Satz in der Fernwärmezentrale und fing den Wachposten auf, als er zusammenbrach. Vor sich im Raum erkannte er zwei Gestalten: Spalko und Sina. Indem er den Toten als Schutzschild benützte, schoss er auf die Gestalt, die zwei Maschinenpistolen in den Händen hielt — Sina! Aber sie hatte bereits abgedrückt, und noch während sie zurücktaumelte, durchsiebte die Wucht zweier Feuerstöße den Körper des Wachpostens.
Arsenow riss krampfhaft die Augen auf, als er den feurigen Schmerz in seiner Brust spürte, dem ein merkwürdig taubes Gefühl folgte. Dann fiel das Licht aus, und er lag mit Blut in der Lunge röchelnd auf dem Betonboden. Wie im Traum hörte er Sina schreien und weinte um alle Träume, die er gehabt hatte, um eine Zukunft, die nun verspielt war. Mit einem Seufzer verließ ihn das Leben, wie es über ihn gekommen war: in Not und Brutalität und Schmerzen.
Auf dem Korridor herrschte schreckliches, tödliches Schweigen. Die Zeit schien still zu stehen. Bourne zielte mit seiner MP ins Dunkel und hörte das leise, flache Atmen der beiden menschlichen Bomben. Er konnte ihre Angst, aber auch ihre Entschlossenheit spüren. Wenn sie merkten, dass er sich auf sie zubewegte, oder auf Chan im Kabelkanal über ihnen aufmerksam wurden, würden sie keinen Augenblick zögern, die Sprengladungen um ihre Taille zu zünden.
Dann, weil er angestrengt horchte, vernahm er über seinem Kopf ein sehr leises zweimaliges Klopfen, das sofort wieder verhallte, und glaubte zu hören, wie Chan durch den Kabelkanal weiterkroch. Er wusste, dass ungefähr über dem Eingang der Fernwärmezentrale eine weitere Wartungsöffnung lag, und konnte sich denken, was Chan beabsichtigte. Dazu würden sie beide Nerven wie Stahlseile und eine sehr sichere Hand brauchen. Die AR-15, mit der er bewaffnet war, hatte einen kurzen Lauf, aber was ihr an Zielsicherheit fehlte, machte sie durch gewaltige Feuerkraft mehr als wett. Sie verschoss ihre.223-Geschosse mit einer Mündungsgeschwindigkeit von über 730 Metern in der Sekunde. Bourne setzte lautlos einen Fuß vor den anderen, dann erstarrte er, weil er in der Dunkelheit vor sich eine leichte Bewegung wahrzunehmen glaubte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Hatte er etwas gehört: ein Zischen, ein Flüstern, Schritte? Wieder völlige Stille. Er hielt den Atem an und konzentrierte sich darauf, die AR-15 im Anschlag zu halten.
Wo war Spalko? Hatte er die Biowaffe schon geladen? Würde er bleiben, um sein Unternehmen zu Ende zu führen, oder die Flucht ergreifen? Weil Bourne wusste, dass er diese beängstigenden Fragen nicht beantworten konnte, schob er sie vorerst beiseite. Konzentrier dich! ermahnte er sich. Entspann dich, atme tief und gleichmäßig, bis du in den Alpharhythmus gelangst und mit der Waffe eins wirst.
Dann flammte der Lichtstrahl von Chans Stablampe auf, er traf das Gesicht einer Frau und blendete sie. Bourne reagierte, ohne zu zögern oder nachzudenken. Sein Zeigefinger lag gekrümmt am Abzug, und jetzt ließ sein Instinkt ihn auf natürliche Weise augenblicklich in Aktion treten. Mündungsfeuer erhellte den Korridor, und er beobachtete, wie der Kopf der Selbstmordattentäterin in einer Wolke aus Blut, Knochen und Gehirnmasse zerplatzte.
Bourne kam aus seiner gebückten Haltung hoch, rannte los, hielt Ausschau nach der zweiten Frau. Im nächsten Augenblick flammte die Deckenbeleuchtung wieder auf, und er sah die zweite Attentäterin mit durchschnittener Kehle neben der Erschossenen liegen. Dann hangelte Chan sich aus der Wartungsöffnung, und sie drangen miteinander in die Fernwärmezentrale ein.
Kurze Zeit zuvor, in dem nach Pulverdampf und Blut und Tod stinkenden Dunkel, war Spalko auf allen vieren umhergekrochen und hatte blindlings nach Sina getastet. Die Dunkelheit hatte seinen Plan durchkreuzt. Ohne Licht konnte er die diffizile Verbindung zwischen der Mündung des NX 20 und dem Ventil des Heizungsrohrs nicht herstellen.
Mit ausgestrecktem Arm tastete er den Betonboden vor sich ab. Er hatte nicht auf sie geachtet, er wusste nicht sicher, wo sie zuletzt gestanden hatte, und außerdem hatte sie sich bewegt, sobald Arsenow hereingestürmt war. Es war clever von ihm gewesen, den Wachposten als Schutzschild zu benützen, aber Sina war noch cleverer gewesen und hatte ihn erschossen. Und sie musste noch leben. Er hatte sie schreien gehört.
Jetzt verharrte er lauschend, weil er wusste, dass die von ihm scharf gemachten menschlichen Bomben ihn vor dem Angreifer schützten, der dort draußen lauerte. Bourne? Chan? Er gestand sich beschämt ein, dass er sich vor dem Unbekannten auf dem Korridor fürchtete. Wer immer dort sein mochte, er hatte sein Ablenkungsmanöver durchschaut und war zu demselben Schluss gekommen, was die Verwundbarkeit des Heizungssystems betraf. Er fühlte Panik in sich aufsteigen, die sich vorübergehend abschwächte, als er Sinas rasselnde Atemzüge hörte. Er kroch rasch durch eine Lache aus klebrigem Blut zu ihr hinüber.