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Jetzt kniete er neben dem Mann nieder, von dem er wusste, dass er sein Vater war, legte die Kalaschnikow so nieder, dass Sina sie sehen konnte, und streckte eine Hand nach der Liegenden aus.

«Er hat Recht«, sagte Chan in völlig anderem Tonfall als sonst.»Man kann Wiedergutmachung üben für Sünden der Vergangenheit, für die Morde, die man begangen hat, und für den Verrat an Menschen, die einen geliebt haben, vielleicht ohne dass man’s geahnt hat.«

Seine Hand schob sich Zentimeter für Zentimeter vor, bis sie Sinas bedeckte. Langsam und sanft löste er ihren Zeigefinger vom Abzug. Darauf sank sie leicht zurück und ließ zu, dass er die Waffe aus ihrer kraftlosen Umarmung nahm.

«Danke, Sina«, sagte Bourne.»Chan kümmert sich jetzt um dich. «Er stand auf und drückte kurz die Schulter seines Sohns; dann wandte er sich ab und trabte rasch und lautlos den Korridor entlang hinter Spalko her.

Kapitel dreißig

Stepan Spalko hastete den kahlen Betonkorridor hinunter und hielt dabei Bournes Keramikpistole schussbereit. Er wusste, dass die wilde Schießerei jede Menge Sicherheitsleute in die Kellergeschosse unter dem Hauptgebäude des Hotels locken würde. Vor sich erkannte er Fahd al-Sa’ud, den Sicherheitschef der Araber, und zwei seiner Männer. Spalko wich in einen Quergang zurück. Sie hatten ihn nicht gesehen, und er nutzte das Überraschungsmoment, lauerte ihnen auf und erschoss sie, bevor sie reagieren konnten.

Einige atemlose Augenblicke lang stand er über den Zusammengebrochenen. Al-Sa’ud stöhnte laut, und Spal-ko erledigte ihn mit einem aufgesetzten Kopfschuss. Der Sicherheitschef bäumte sich noch einmal auf, dann lag er still. Spalko nahm einem der Männer den an einer dünnen Halskette getragenen Dienstausweis ab, zog die Uniform des Mannes an und nahm die farbigen Kontaktlinsen aus seinen eigenen Augen. Dabei musste er unvermeidlich wieder an Sina denken. Sie war furchtlos gewesen, das stand fest, aber ihre maßlose Loyalität zu ihm war zuletzt ihr Verderben gewesen. Sie hatte ihn vor jedermann beschützt — besonders vor Arsenow. Das hatte sie unverkennbar genossen. Aber Spalko hatte auch erkannt, dass Sinas wahre Leidenschaft ihm galt. Und gerade diese Liebe, diese von abstoßender Schwäche kündende Opferbereitschaft, hatte ihn dazu gebracht, sie zu verlassen.

Rasche Schritte hinter ihm brachten ihn in die Gegenwart zurück, und er hastete weiter. Seine schicksalhafte Begegnung mit den Arabern war nicht nur von Vorteil gewesen, denn obwohl er ihr eine gute Tarnung verdankte, hatte sie ihn doch auch aufgehalten. Als er jetzt einen Blick über die Schulter warf, sah er einen Mann im Arbeitsanzug eines Sicherheitsbeamten, und er fluchte ingrimmig. Er fühlte sich wie Kapitän Ahab, der Moby Dick verfolgt hatte, bis die Verhältnisse sich ganz unerwartet so umgekehrt hatten, dass der Jäger vom Gejagten verfolgt wurde. Der Mann in der Uniform eines US-Sicherheitsbeamten war Jason Bourne.

Bourne sah, dass Spalko — jetzt in der Uniform eines arabischen Sicherheitsbeamten — eine Stahltür aufriss und in einem Treppenhaus verschwand. Er sprang über die toten Männer hinweg und nahm die Verfolgung auf. Die Treppe führte in das in der Hotelhalle herrschende Chaos hinauf. Als sein Sohn und er vor kurzem das Hotel betreten hatten, war der weite Raum aus Stahl und Glas spannungsgeladen, aber still und fast völlig verlassen gewesen. Jetzt liefen hier Dutzende von Sicherheitsbeamten durcheinander. Manche trieben das Hotelpersonal zusammen und teilten es je nach Tätigkeit und Arbeitsbereich in Gruppen ein. Andere hatten schon mit der umständlichen und langwierigen Befragung des Personals begonnen. Wieder andere waren in die Kellergeschosse unterwegs oder wurden über Funk in andere Bereiche des Hotels beordert. Jeder hatte alle Hände voll zu tun; niemand interessierte sich für die beiden Männer, die mit einigem Abstand das Chaos in der Hotelhalle in Richtung Ausgang durchquerten.

Es war verblüffend zu beobachten, wie geschickt Spal-ko sich zwischen den anderen bewegte, sich anpasste, einer von ihnen wurde. Bourne überlegte kurz, ob er das Sicherheitspersonal in seiner Nähe alarmieren sollte, kam aber gleich wieder davon ab. Spalko hätte den Spieß sofort umgedreht und laut verkündet, Bourne sei der Mörder, nach dem die CIA international fahnde. Das wusste Spalko natürlich genau, denn schließlich war er der clevere Verursacher von Bournes gefährlicher Zwangslage. Und während er Spalko ins Freie folgte, wurde ihm noch etwas klar. Wir sind jetzt beide gleich, dachte er, zwei Chamäleons, die sich ähnlich tarnen, um ihre wahre Identität vor ihrer Umgebung zu verbergen. Die Einsicht war befremdlich und beunruhigend, dass die internationale Sicherheitstruppe im Augenblick Spalko ebenso auf den Fersen war wie ihm selbst.

Bourne folgte ihm ins Freie, verlor ihn aber zwischen den vielen geparkten Fahrzeugen sofort aus den Augen. Er begann zu rennen. Hinter ihm erklang ein Ruf, den er nicht beachtete. Er riss die Tür des ersten Wagens auf, den er erreichte — ein amerikanischer Jeep —, fetzte die Kunststoffverkleidung unter dem Lenkrad ab und fummelte nach den Drähten. Im nächsten Augenblick hörte er einen anderen Motor anspringen und sah Spalko mit einem Geländewagen, den er kurzgeschlossen hatte, den Parkplatz verlassen.

Nun waren mehrere laute Rufe und das Getrappel von Stiefeln auf dem Asphalt zu hören. Mehrere Schüsse fielen. Bourne konzentrierte sich darauf, was getan werden musste, und verdrillte die richtigen Drähte miteinander. Der Motor des Jeeps sprang an, und Bourne stellte den Wahlhebel des Automatikgetriebes auf D und trat das

Gaspedal durch. Er fuhr mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen an und raste durch die Kontrollstelle.

Die Nacht war mondlos, aber andererseits war sie keine richtige Nacht. Über Reykjavik lag eine milchige Dunkelheit, denn der Widerschein der dicht unter dem Horizont stehenden Sonne gab dem Himmel die Farbe einer Austernschale. Während Bourne Spalko auf einer Zickzackroute durch die Stadt folgte, wurde ihm klar, dass der Flüchtende nach Süden unterwegs war.

Das war eine gewisse Überraschung, denn er hatte erwartet, Spalko wolle den Flughafen erreichen. Er hatte zweifellos einen Fluchtplan, bei dem ebenso zweifellos ein Flugzeug eine Rolle spielte. Aber je länger Bourne darüber nachdachte, desto weniger war er überrascht. Er lernte seinen Gegner allmählich besser kennen. So wusste er bereits, dass Spalko in keiner schwierigen Situation den logischen Ausweg wählte. Sein abgefeimter Verstand arbeitete einzigartig raffiniert. Er war ein durchtriebener, listiger Mann, der seinen Gegner lieber erst in eine Falle lockte, als ihn gleich zu beseitigen.

Keflavik kam also nicht in Frage. Zu offensichtlich und — wie Spalko zweifellos vorausgesehen hatte — zu scharf bewacht, um ihm als Fluchtweg dienen zu können. Bourne orientierte sich in Gedanken auf der in Oszkars Notebook gespeicherten Landkarte. Was lag südlich der Hauptstadt? Hafnarfjördur, ein Fischerdorf, bei dem kein Flugzeug landen konnte, das für Spalkos Zwecke groß genug gewesen wäre. Die Küste! Schließlich befanden sie sich auf Island. Spalko wollte übers Meer entkommen!

Um diese Nachtzeit war der Verkehr vor allem außer-halb des Stadtgebiets ziemlich schwach. Die Straßen wurden schmaler, schlängelten sich durch die Hügel auf der dem Land zugewandten Seite der Felsenküste. Als Spalko eine besonders scharfe Kurve durchfuhr, ließ Bourne sich zurückfallen. Er schaltete die Scheinwerfer aus und beschleunigte erst dann um die Kurve. Vor sich konnte er die Rücklichter von Spalkos Wagen sehen, aber Spalko würde ihn hoffentlich nicht mehr im Rückspiegel erkennen. Das war gefährlich, weil Bourne riskierte, Spalko in jeder Kurve aus den Augen zu verlieren, aber er sah keine andere Möglichkeit. Er musste Spalko glauben machen, er habe seinen Verfolger abgehängt.