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Das völlige Fehlen von Bäumen verlieh der Landschaft eine gewisse Herbheit, zu der die Gletscherberge im Hintergrund eine ständig winterliche Note beisteuerten, die umso schauriger wirkte, als die Straße gelegentlich durch üppig grüne Matten führte. Der Himmel war unendlich hoch und in der seltsamen Morgendämmerung mit den schwarzen Silhouetten von Meeresvögeln ausgefüllt, die vor ihnen segelten und kreisten. Bei ihrem Anblick empfand Bourne eine gewisse Befreiung von seiner Einkerkerung in den von Todesgerüchen geschwängerten Katakomben des Hotels. Obwohl die Nacht kalt war, fuhr er sein Fenster herunter und atmete die salzhaltige frische Luft tief ein. Süßer Blütenduft stieg ihm in die Nase, als er an dem leicht gewellten, mit Blumen übersäten Teppich einer Wiese vorbeiraste.

Die Straße wurde noch schmaler, als sie zur Küste hin abbog. Bourne rollte durch ein mit dichtem Buschwerk bestandenes kleines Tal und flitzte um die nächste Kurve. Die Straße fiel steiler ab, während sie in Serpentinen zum Strand hinunterführte. Er sah Spalko und verlor ihn in der nächsten Kurve wieder aus den Augen. Als er diese Kurve selbst durchfuhr, sah er den Nordatlantik nur leicht bewegt in der silbergrauen Morgendämmerung unter sich glitzern.

Spalkos Wagen verschwand um die nächste Kurve, und Bourne blieb weiter hinter ihm. Der Abstand zur übernächsten Kurve war so kurz, dass der andere Wagen bereits außer Sicht war. Trotz des erhöhten Risikos gab Bourne Gas und fuhr mit dem Jeep noch etwas schneller.

Er hatte die Vorderräder bereits wegen der Kurve eingeschlagen, als er das Geräusch hörte. Es war ein gedämpfter, vertrauter Knall, der das Rauschen des Windes übertönte: der Schussknall seiner Keramikpistole. Der linke Vorderreifen platzte, und der Jeep geriet ins Schleudern. Bourne erkannte flüchtig Spalko, der mit der Pistole in der Hand zu seinem abgestellten Wagen zurücklief. Dann veränderte sein Blickwinkel sich, und er war viel zu beschäftigt damit, den Jeep wieder unter Kontrolle zu bekommen, als der Wagen gefährlich nahe an den zum Meer hin abfallenden Straßenrand geriet.

Bourne stellte den Wahlhebel auf N, aber das genügte nicht. Er hätte die Zündung ausschalten müssen, aber das war ohne Zündschlüssel unmöglich. Die Hinterräder rutschten über den Straßenrand. Bourne schnallte sich los und hielt das Lenkrad umklammert, als der Jeep sich überschlagend von der Straße abkam. Er schien in der Luft zu schweben, überschlug sich dabei zweimal. Bourne roch den stechenden, unverkennbaren Geruch von überhitztem Metall, in den sich der beißende Gestank von brennendem Gummi und Kunststoff mischte.

Er sprang aus dem Wagen, kurz bevor der Jeep aufschlug, und rollte sich seitlich weg, als der Wagen von einem Felsvorsprung abprallte und zerplatzte. Flammen schossen hoch in die Luft, und im Feuerschein sah Bourne in der kleinen Bucht unmittelbar unter sich ein Fischerboot, das langsam auf den Strand zulief.

Spalko raste wie ein Verrückter die Straße hinunter, die am Strand der kleinen Bucht endete. Mit einem Blick auf den über ihm in Flammen stehenden Jeep sagte er sich: Zum Teufel mit Jason Bourne. Er ist tot. Aber leider würde er ihn nicht so schnell vergessen. Es war Bourne gewesen, der seine Pläne durchkreuzt hatte, und nun hatte er weder den NX 20 noch die Tschetschenen als Handlanger. So viele Monate sorgfältiger Planung zunichte gemacht!

Er stieg aus dem Wagen und stapfte über den mit Treibgut übersäten felsigen Strand. Ein Ruderboot kam, um ihn abzuholen, obwohl Flut herrschte und das Fischerboot sehr dicht an den Strand heranlaufen konnte. Er hatte den Skipper angerufen, sobald er den Kontrollposten vor dem Hotel passiert hatte. Diesmal war nur eine aus dem Skipper und seinem Maat bestehende Mindestbesatzung an Bord. Sobald der Skipper das Ruderboot auflaufen ließ, kletterte Spalko hinein, und der Maat stieß das Boot mit seinem Riemen ab.

Spalko kochte vor Wut, und auf der kurzen, wenig angenehmen Rückfahrt zum Fischerboot wurde kein Wort gesprochen. Sowie Spalko an Bord war, befahl er:»Klarmachen zum Auslaufen, Captain.«

«Bitte um Entschuldigung, Sir«, sagte der Skipper,»aber was ist mit dem Rest des Teams?«

Spalko packte ihn vorn am Hemd.»Ich habe Ihnen einen Befehl gegeben, Captain. Ich erwarte, dass Sie ihn ausführen.«

«Aye, aye, Sir«, knurrte der Skipper mit bösem Glitzern im Blick.»Aber wir sind nur zu zweit, deshalb wird’s etwas länger dauern, bis wir Fahrt aufnehmen.«

«Dann macht gefälligst voran, verdammt noch mal!«, forderte Spalko ihn auf, bevor er nach unten ging.

Das Wasser war kalt wie Eis, schwarz wie der unbeleuchtete Keller des Hotels. Bourne wusste, dass er so schnell wie irgend möglich an Bord des Fischerboots gelangen musste. Schon nach einer halben Minute im Wasser fingen seine Finger und Zehen an, taub zu werden; nach einer weiteren halben Minute spürte er sie überhaupt nicht mehr.

Die zwei Minuten, die er brauchte, um zu dem Fischerboot hinauszuschwimmen, erschienen ihm wie die längsten seines Lebens. Er bekam eine ölige Trosse zu fassen und zog sich daran aus der See. Er zitterte im kalten Wind, während er Hand über Hand nach oben kletterte.

Dabei war er plötzlich auf unheimliche Weise desorientiert. Weil er Seeluft in der Nase hatte und Salzwasser auf seiner Haut spürte, erschien es ihm, als sei er nicht vor Island, als klettere er nicht an Bord eines Fischerboots, um Spalko zu verfolgen, sondern entere vor Marseille heimlich eine Jacht, um den international gesuchten Profikiller Carlos zu liquidieren. In Marseille hatte der Albtraum begonnen: Sein Zweikampf mit Carlos hatte damit geendet, dass er über Bord gestoßen worden war, wobei der Schock darüber, dass er mit Schussverletzungen fast ertrunken war, ihm sein Gedächtnis und sein ganzes früheres Leben geraubt hatte.

Als er sich über den Dollbord ans Oberdeck des Fi-scherboots wälzte, durchzuckte ihn Angst, die in ihrer Intensität fast lähmend war. In genau dieser Situation hatte er damals versagt. Er fühlte sich plötzlich exponiert, als stehe ihm sein Versagen auf die Stirn geschrieben. Fast hätte ihn der Mut verlassen, aber vor seinem inneren Auge erschien das Bild Chans, und er erinnerte sich daran, was er ihn bei ihrer ersten mit nervöser Spannung erfüllten Begegnung gefragt hatte: »Wer bist du?« Jetzt wurde ihm klar, dass Chan das nicht wusste — und es nie erfahren würde, wenn Bourne es ihm nicht sagte. Er dachte an Chan, sah ihn in der Fernwärmezentrale neben Sina knien und hatte das Gefühl, er habe nicht nur die Kalaschnikow weggelegt, sondern vielleicht auch einen Teil seiner inneren Wut überwunden.

Bourne atmete tief durch und konzentrierte sich auf das, was ihm bevorstand. Er schlich übers Deck. Der Skipper und sein Maat waren im Steuerhaus beschäftigt, und es fiel ihm nicht schwer, sie beide außer Gefecht zu setzen. Taue gab es hier mehr als genug, und er war gerade dabei, den Bewusstlosen die Hände auf dem Rücken zu fesseln, als Spalko hinter ihm sagte:»Ich denke, Sie sollten lieber ein Tau für sich selbst suchen.«

Bourne kauerte bei den Männern. Die beiden Seeleute lagen Rücken an Rücken nebeneinander. Von Spalko unbemerkt zog Bourne sein Schnappmesser. Er merkte jedoch gleich, dass er einen fatalen Fehler gemacht hatte. Der Maat kehrte ihm den Rücken zu, aber der ihm zugewandte Skipper erkannte sehr deutlich, dass er jetzt bewaffnet war. Er sah Bourne ins Gesicht, versuchte aber seltsamerweise nicht, Spalko durch einen Laut oder eine Bewegung zu warnen. Stattdessen schloss er ohne ein Wort die Augen, als sei er weiter bewusstlos.

«Aufstehen und umdrehen!«, befahl Spalko.

Bourne tat wie geheißen, indem er seine Rechte hinter dem Oberschenkel verborgen hielt. Spalko trug frisch gebügelte Jeans und einen schwarzen Pullover mit Zopfmuster und Rundausschnitt. Er stand breitbeinig an Deck und hielt Bournes Keramikpistole in der Hand. Und Bourne fühlte sich wieder eigenartig desorientiert. Wie vor vielen Jahren Carlos hatte ihn jetzt Spalko in seiner Gewalt. Jetzt musste Spalko nur noch abdrücken, dann würde Bourne mit einer Kugel in der Brust über Bord gehen. Diesmal jedoch in den eisigen Nordatlantik; diesmal würde es keine Rettung wie aus den lauen Wassern des Mittelmeers geben. Hier würde er rasch vor Kälte erstarren und ertrinken.