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«Na sdarowje!«, wiederholten Vater und Sohn und taten es ihm gleich.

Bourne tränten die Augen. Der Wodka brannte bis in seinen Magen hinunter, aber wenige Augenblicke später durchströmte wohlige Wärme den gesamten Körper bis in die Fingerspitzen und milderte seine pochenden Schmerzen.

Karpow beugte sich zu ihnen hinüber. Sein Gesicht war von dem starken Getränk und dem schlichten Vergnügen, mit Freunden zusammen zu sein, leicht gerötet.»Jetzt betrinken wir uns und erzählen uns alle unsere Geheimnisse. Wir erfahren, was es bedeutet, Freunde zu sein.«

Nach einem weiteren Glas sagte er:»Also, ich fange an. Hier ist mein erstes Geheimnis. Ich weiß, wer Sie sind, Chan. Obwohl es offiziell kein Foto von Ihnen gibt, kenne ich Sie. «Karpow legte einen Finger an die Nase.»Ich bin nicht seit zwanzig Jahren im Einsatz, ohne meinen sechsten Sinn geschärft zu haben. Und weil ich das wusste, habe ich Sie von Hull fern gehalten, weil er Sie ohne Rücksicht auf Ihren Heldenstatus verhaftet hätte, wenn er Ihre wahre Identität geahnt hätte.«

Chan setzte sich auf.»Warum haben Sie das getan?«

«Oho, jetzt würden Sie mich umlegen? Gleich hier in dieser freundschaftlichen Runde? Sie glauben, dass ich Sie für mich aufheben wollte? Habe ich nicht gesagt, dass wir Freunde sind?«Er schüttelte den Kopf.»Sie müssen noch viel über Freundschaft lernen, mein junger Freund. «Er beugte sich nach vorn.»Beschützt habe ich Sie wegen Jason Bourne, der immer allein arbeitet. Sie waren mit ihm zusammen, deshalb wusste ich, dass Sie für ihn wichtig sind.«

Er füllte die Gläser, dann deutete er auf Bourne.»Jetzt sind Sie an der Reihe, mein Freund.«

Bourne starrte in seinen Wodka. Er war sich bewusst, dass Chan ihn scharf beobachtete. Er wusste, welches Geheimnis er preisgeben wollte, aber er fürchtete, wenn er das tue, werde Chan aufstehen und für immer verschwinden. Aber er wollte ihnen etwas Wahres berichten. Schließlich sah er auf.

«Als ich Spalko allein gegenüberstand, hätte ich fast versagt. Spalko hätte mich beinahe erledigt, aber die Wahrheit ist. die Wahrheit ist.«

«Heraus mit der Sprache, dann ist Ihnen wohler«, drängte der Russe.

Bourne setzte sein Glas an, trank einen Schluck von dem flüssigen Mut und wandte sich seinem Sohn zu.»Ich habe an dich gedacht. Ich habe mir gesagt, dass ich nicht zurückkommen werde, wenn ich versage, wenn ich zulasse, dass Spalko mich umlegt. Aber ich wollte dich nicht verlassen; ich durfte dich nicht im Stich lassen.«

«Sehr gut!«Karpow knallte sein Glas auf die Tischplatte. Er deutete auf Chan.»Jetzt Sie, mein junger Freund.«

In der nun folgenden Stille hatte Bourne das Gefühl, sein Herz könnte jeden Augenblick stillstehen. Sein Puls pochte in den Schläfen, und die vorübergehend betäubten Schmerzen von seinen vielen Wunden kehrten zurück.

«Nun«, fragte Karpow,»hat’s Ihnen die Sprache verschlagen? Ihre Freunde haben sich freimütig erklärt und warten jetzt auf ein Wort von Ihnen.«

Chan sah dem Russen ins Gesicht.»Boris Iljitsch Kar-pow, ich möchte mich Ihnen offiziell vorstellen. Ich heiße Joshua und bin Jason Bournes Sohn.«

Mehrere Stunden und zwei Flaschen Wodka später standen Bourne und Chan im Keller des Hotels Oskjuhlid. Dort unten war es moderig kühl, aber sie rochen nur Wodkadunst. Überall waren noch Blutflecken zu sehen.

«Du fragst dich vermutlich, was mit dem NX 20 passiert ist«, sagte Chan.

Bourne nickte.»Hull war misstrauisch wegen der Schutzanzüge. Er hat gesagt, sie hätten keine Spur von biologischen oder chemischen Waffen gefunden.«

«Ich habe den Diffusor versteckt«, sagte Chan.»Ich habe auf deine Rückkehr gewartet, damit wir ihn gemeinsam vernichten können.«

Bourne zögerte kurz.»Du hast darauf vertraut, dass ich zurückkommen werde.«

Chan wandte sich seinem Vater zu.»Ich scheine neues Vertrauen gewonnen zu haben.«

«Oder altes Vertrauen wieder gewonnen.«

«Erzähl mir nicht, was.«

«Ich weiß, ich weiß, es steht mir nicht zu, dir zu sagen, was du denken sollst. «Bourne nickte besänftigend.»Manche Einsichten dauern eben etwas länger.«

Chan führte ihn zu der Stelle, wo er den NX 20 in einem Hohlraum über den riesigen Fernwärmerohren versteckt hatte.»Um das zu tun, musste ich Sina einen Augenblick allein lassen«, berichtete er,»aber das ließ sich nicht ändern. «Er behandelte den Diffusor mit verständlichem Respekt, als er ihn Bourne übergab. Dann zog er noch einen kleinen Metallbehälter aus dem Hohlraum.»Die Phiole mit der er geladen war, ist hier drin.«

«Wir brauchen ein starkes Feuer«, sagte Bourne, der an die Warnung auf Dr. Sidos Bildschirm dachte.»Hitze tötet die Viren ab.«

Die riesige Hotelküche war fleckenlos sauber. Ohne das emsige Treiben des Küchenpersonals wirkten die glänzenden Oberflächen aus Edelstahl noch kälter. Bourne hatte die Notbesatzung vorübergehend hinausgeschickt, bevor er mit Chan an einen der riesigen Backöfen trat. Er wurde mit Gas befeuert, das Bourne ganz aufdrehte. Sofort schossen hohe Flammen in die Flammrohre des mit Schamottsteinen ausgemauerten Ofens. Nach wenigen Minuten war er so heiß, dass man sich ihm kaum nähern konnte.

Sie trugen ABC-Schutzanzüge, als sie den Diffusor zerlegten. Dann warf jeder von ihnen eine Hälfte in die Flammen, und die Phiole folgte.

«Wie ein Scheiterhaufen für einen toten Wikinger«, sagte Bourne, als sie zusahen, wie der NX 20 zusammen-schmolz. Er schloss die Ofentür, und sie zogen die Schutzanzüge aus.

Er wandte sich an seinen Sohn:»Ich habe mit Marie telefoniert, ihr aber noch nichts von dir erzählt. Ich wollte abwarten, bis…«

«Ich komme nicht mit«, sagte Chan.

Bourne wählte seine nächsten Worte sehr sorgfältig.»Das wäre nicht mein Wunsch.«

«Ich weiß«, bestätigte Chan.»Aber ich denke, du hattest sehr gute Gründe, deiner Frau nichts von mir zu erzählen.«

In der Stille, die sie plötzlich umgab, wurde Bourne von schrecklichem Kummer erfasst. Er wollte wegsehen, um zu verbergen, was auf seinem Gesicht stand, aber er konnte sich nicht abwenden. Er wollte seine Gefühle nicht mehr vor seinem Sohn und sich selbst verbergen.

«Du hast Marie und zwei kleine Kinder«, sagte Chan.»Das ist das neue Leben, das David Webb sich geschaffen hat, und ich gehöre nicht in dieses Leben.«

In den wenigen Tagen, seit die erste Kugel mit warnendem Sirren auf dem Campus an seinem Ohr vorbeigezischt war, hatte Bourne vieles gelernt — auch wann er im Gespräch mit seinem Sohn besser den Mund hielt. Chan hatte einen Entschluss gefasst, und das war’s dann. Zu versuchen, ihm seinen Entschluss auszureden, wäre sinnlos gewesen. Und noch schlimmer: Das hätte seinen noch latenten Zorn, den Chan nicht so bald vergessen würde, erneut angefacht. Dieses Gefühl war so verderblich und saß so tief, dass es sich nicht binnen Tagen, Wochen oder auch nur Monaten abschütteln ließ.

Bourne begriff, dass Chan eine kluge Entscheidung getroffen hatte. Die Schmerzen waren noch zu stark, die

Wunde war noch nicht verheilt, auch wenn wenigstens die Blutung gestillt war. Und wie Chan scharfsinnig bemerkt hatte, war ihm im Innersten bewusst, dass Chans Eintritt in das Leben, das David Webb sich geschaffen hatte, völlig sinnlos gewesen wäre.

«Vielleicht nicht jetzt, vielleicht niemals. Aber unabhängig davon, was du für mich empfindest, sollst du wissen, dass du einen Bruder und eine Schwester hast, die es verdienen, dich zu kennen und einen älteren Bruder in ihrem Leben zu haben. Ich hoffe, dass es eines Tages dazu kommen wird — zu unser aller Wohl.«

Sie gingen miteinander zum Ausgang, und Bourne war sich sehr bewusst, dass dies ihr letztes Zusammensein für viele Monate sein würde. Aber nicht ihr letztes, nein. Zumindest das musste er seinem Sohn begreiflich machen.

Er trat einen Schritt vor und schloss Chan in die Arme. Sie hielten einander schweigend umfangen. Bourne konnte das Brausen der Gasflammen hören. Das helle Feuer im Backofen vernichtete die schreckliche Gefahr, die ihnen allen gedroht hatte.