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«Und trotzdem lastet das russische Joch weiter auf uns«, klagte Arsenow.»Trotzdem sterben wir weiter zu Hunderten.«

«Der Scheich hat uns eine Waffe versprochen, die das alles ändern wird.«

«Er hat uns alle möglichen Versprechungen gemacht. «Arsenow rieb sich Staub aus dem linken Auge.»Damit muss endlich Schluss sein. Wir wollen Taten sehen.«

Die Limousine, die der Scheich den Tschetschenen geschickt hatte, bog von der Autobahn auf den Kalmankrt-Boulevard ab, der über die Arpadbrücke führte, unter der die Donau mit ihren großen Schleppzügen und bunten Sportbooten wie ein glitzerndes Bild lag. Sina nahm das Bild von der Brücke in sich auf. Auf einer Seite erhob sich das riesige Parlamentsgebäude mit atemberaubender Kuppel und neugotischen Spitztürmen; auf der anderen lag die dicht bewaldete Margareteninsel mit dem Grandhotel Danubius, in dem blütenweiße Bettwäsche und dicke Daunendecken auf sie warteten. Die tagsüber stahlharte Sina genoss ihre Budapester Nächte — und ganz besonders den Luxus eines übergroßen Hotelbetts. Dieses Fest der Sinnenfreude sah sie nicht als Verrat an ihrer asketischen Existenz, sondern als kurze Atempause von Entbehrungen und Erniedrigungen: als eine Belohnung wie eine Oblate aus belgischer Schokolade, die man heimlich unter die Zunge nahm, wo sie in einer Wolke aus Ekstase schmolz.

Die Limousine rollte in die Tiefgarage der Zentrale von Humanistas, Ltd. Beim Aussteigen ließ Sina sich vom Fahrer ein längliches Paket geben. Uniformierte Wachleute verglichen die Pässe der beiden mit Fotos in der Datenbank ihres Computerterminals, klipsten ihnen laminierte Besucherausweise an und begleiteten sie in einen prächtigen Aufzug aus Bronze und Glas.

Spalko empfing sie in seinem Arbeitszimmer. Die Sonne stand schon hoch am Himmel und ließ den Fluss wie geschmolzenes Messing glänzen. Er umarmte beide und erkundigte sich nach ihrem Flug, der Fahrt vom Flughafen Ferihegy hierher und Arsenows Schussverletzung. Nachdem der Konvention Genüge getan war, gingen sie nach nebenan in einen mit honigfarbenem Pe-kanholz getäfelten Raum, in dem ein Tisch mit blütenweißem Damast, glänzendem Porzellan und blitzendem Tafelsilber gedeckt war. Spalko hatte ein westliches Mahl nach dem Geschmack der Tschetschenen vorbereiten lassen: Steak, Hummer, drei Sorten Gemüse. Und nirgends eine Kartoffel in Sicht. Kartoffeln waren oft tagelang alles, was Arsenow und Sina zu essen hatten. Bevor sie Platz nahmen, legte Sina das längliche Paket auf einen freien Stuhl.

«Scheich«, sagte Arsenow,»wie immer sind wir von deiner großzügigen Gastfreundschaft überwältigt.«

Spalko neigte den Kopf. Er war sehr zufrieden mit dem Namen, den er für ihre Welt angenommen hatte: Heiliger, Freund Allahs. Er bewirkte die richtige Mischung aus Ehrfurcht und Verehrung, er erhob den Hirten weit über seine Schafe.

Jetzt stand er auf und schraubte eine Flasche hochprozentigen polnischen Wodka auf, mit dem er drei Gläser füllte. Er hob sein Glas, und die beiden taten es ihm gleich.»Zum Andenken an Chalid Murat, den großen Führer, gewaltigen Krieger und grimmigen Feind«, intonierte er nach tschetschenischer Art ernst.»Möge Allah ihm den Ruhm schenken, den er sich durch sein Blutopfer verdient hat. Mögen die Sagen von seiner Kühnheit und Tapferkeit als Führer wieder und wieder von den Gläubigen erzählt werden. «Alle drei kippten das scharfe Getränk mit einem Zug.

Arsenow stand auf, füllte die Gläser erneut. Er hob seines, und die beiden anderen folgten seinem Beispiel.»Auf den Scheich, den Freund der Tschetschenen, der uns in der neuen Weltordnung unseren rechtmäßigen Platz verschaffen wird. «Auch diesmal kippten sie ihren Wodka.

Sina wollte aufstehen, wollte zweifellos ihrerseits einen Trinkspruch ausbringen, aber Arsenow legte ihr die Hand auf den Arm. Diese Geste, mit der ihr Einhalt geboten wurde, entging Spalkos Aufmerksamkeit nicht. Am meisten interessierte ihn Sinas Reaktion. Trotz ihrer ausdruckslosen Miene sah er ihr an, dass sie innerlich kochte. Auf der Welt gab es viele Ungerechtigkeiten, das wusste er — in jeder nur vorstellbaren Größenordnung. Ihm erschien es seltsam und ein wenig pervers, dass Menschen sich über großes Unrecht aufregen konnten, während sie die kleinen Ungerechtigkeiten, unter denen viele täglich zu leiden hatten, geflissentlich übersahen. Sina hatte Seite an Seite mit den Männern gekämpft; weshalb sollte sie also nicht auch einen Trinkspruch ausbringen dürfen? Sie kochte vor Wut; das gefiel Spalko, denn er verstand sich darauf, den Zorn anderer für seine Zwecke zu nutzen.

«Meine Gefährten, meine Freunde. «In seinen Augen blitzte Überzeugungskraft.»Auf das Zusammentreffen von kummervoller Vergangenheit, verzweifelter Gegenwart und glorreicher Zukunft. Unser Sieg ist zum Greifen nahe!«

Sie begannen zu essen, unterhielten sich dabei wie eine zwanglos zusammengewürfelte Tischgesellschaft über allgemeine, belanglose Themen. Und trotzdem machte sich eine erwartungsvolle Stimmung, die Veränderungen anzukündigen schien, in dem Raum breit. Ihre Blicke blieben auf ihre Teller oder die anderen gerichtet, als widerstrebe es ihnen, dem aufziehenden Sturm, der sie schon jetzt in Unruhe versetzte, ins Auge zu sehen. Dann war das Mahl schließlich beendet.

«Es ist Zeit«, sagte der Scheich. Arsenow und Sina erhoben sich, standen vor ihm.

Arsenow verneigte sich.»Wer aus Liebe zur materiellen Welt stirbt, stirbt als Heuchler. Wer aus Liebe zum Jenseits stirbt, stirbt als Asket. Aber wer aus Liebe zur Wahrheit stirbt, stirbt als Sufi.«

Er wandte sich Sina zu, die das Paket aufriss, das sie aus Grosny mitgebracht hatten. Es enthielt drei Gewänder. Eines davon reichte sie Arsenow, der es anlegte. Das zweite legte sie selbst an. Das dritte hielt Arsenow in den Händen, als er sich erneut an den Scheich wandte.

«Die cherkeh ist das Ehrenkleid der Derwische«, erklärte Arsenow ihm.»Sie symbolisiert das Wesen und die Attribute Gottes.«

Sina sagte:»Das Gewand wird mit der Nadel der Frömmigkeit und dem Faden selbstlosen Gedenkens an Gott genäht.«

Der Scheich neigte den Kopf und erwiderte: »La illaha ill Allah.« Es gibt keinen Gott außer Gott, der eins ist.

Arsenow und Sina wiederholten: »La illaha ill Allah.«Dann bekleidete der tschetschenische Rebellenführer den Scheich mit der cherkeh.»Für die meisten Männer genügt es, nach der Scharia, dem islamischen Gesetz, gelebt und sich dem göttlichen Willen ergeben zu haben, um in Ehren zu sterben und ins Paradies einzugehen«, sagte er.»Aber es gibt andere unter uns, die das Göttliche schon hier und jetzt herbeisehnen, deren Liebe zu Allah sie wie uns drängt, den Weg der Innerlichkeit zu suchen. Wir sind Sufis.«

Spalko, der das Derwischgewand auf seinen Schultern lasten fühlte, sagte feierlich:»O du Seele, die du in Frieden lebst, kehre zu deinem Herrn zurück — mit Freuden, die in ihm und in dir sein werden. Reihe du dich ein unter meine Diener. Gehe ein in mein Paradies.«

Arsenow, den dieses Zitat aus dem Koran rührte, ergriff Sinas Hand und kniete mit ihr vor dem Scheich nieder. In drei Jahrhunderte alter Wechselrede legten sie einen feierlichen Treueschwur ab. Spalko holte ein Messer und übergab es ihnen. Beide brachten sich einen Schnitt am Handgelenk bei und boten ihm ihr Blut in einem Stielglas dar. Dadurch wurden sie murids, Jünger des Scheichs, durch Wort und Tat an ihn gebunden.

Dann, obwohl das für Arsenow wegen seiner Schussverletzung schmerzhaft war, saßen sie einander mit untergeschlagenen Beinen gegenüber und vollzogen nach Art der Naqschibandi-Sufis die sikr, die ekstatische Vereinigung mit Gott. Jeder legte die rechte Hand auf den linken Oberschenkel, umfasste das rechte Handgelenk mit der linken Hand. Arsenow bewegte Hals und Kopf halbkreisförmig nach rechts, und Sina und Spalko blieben genau im Takt seiner sanften, fast sinnlichen Beschwörung:»Bewahre mich, o Gott, vor dem bösen Blick aus Neid und Missgunst, der auf deine reichen Gaben fällt. «Hals und Kopf schwangen nach links.»Bewahre mich davor, o Gott, in die Hände verspielter Kinder der Erde zu fallen, damit sie mich nicht für ihre Spiele benützen; sie könnten mit mir spielen und mich schließlich zerbrechen, wie’s Kinder mit ihren Spielsachen tun. «Von einer Seite zur anderen und wieder zurück.»Bewahre mich, o Gott, vor jeglicher Verletzung, die von der Bitterkeit meiner Feinde und der Unwissenheit meiner liebevollen Freunde kommt.«