Im Bett liegend tastete Chan die Narben auf seinem Körper ab. Das war eine Art Ritual, vielleicht ein Aberglaube, ein Mittel, um vor Schaden sicher zu sein — nicht vor Gewalt, wie sie Erwachsene gegeneinander einsetzten, sondern vor dem kriechenden, namenlosen Entsetzen, das ein Kind mitten in der Nacht befällt. Kinder, die aus solchen Albträumen aufschrecken, laufen zu ihren Eltern, schlüpfen in die behagliche Wärme ihres Betts und sind bald wieder eingeschlafen. Aber Chan hatte keine Eltern gehabt, die ihn hätten trösten können. Er hatte sich im Gegenteil ständig aus den Krallen geistig minderbemittelter Erwachsener befreien müssen, die ihn nur als Quelle für Geld oder Sex sahen. Das Dasein als Sklave war viele Jahre lang sein Los gewesen — bei Asiaten ebenso wie bei Weißen, denen zu begegnen er das Unglück gehabt hatte. Er gehörte zu keiner der beiden Welten, dessen war er sich bewusst. Er war ein Mischling und als solcher verachtet, geschmäht, beschimpft, geschlagen, missbraucht und auf jede für menschliche Wesen nur denkbare Weise erniedrigt worden.
Und trotzdem hatte er durchgehalten. Anfangs hatte er nur das Ziel gehabt, von einem Tag zum nächsten zu überleben. Aber er hatte aus bitterer Erfahrung gelernt, dass Flucht allein nicht genügte, weil die Sklavenhalter einen verfolgten, um einen schwer zu bestrafen. Das hatte ihn zweimal fast das Leben gekostet. Endlich begriff er, dass er mehr tun musste, wenn er überleben wollte. Er würde töten müssen, sonst würde er selbst getötet werden.
Kurz vor fünf Uhr schlichen die Männer des Eingreifteams sich von ihrer Ausgangsposition an der Straßensperre lautlos an das Motel an. Dass Jason Bourne hier abgestiegen war, hatte der Nachtportier der Agency gemeldet, der das Gesicht des Flüchtigen auf dem Fernsehschirm vor sich gehabt hatte, als er aus einem von Xanax bewirkten Dämmerschlaf hochgeschreckt war. Er hatte sich gezwickt, um sich zu vergewissern, dass er nicht träumte, einen Schluck billigen Rye genommen und nach dem Telefonhörer gegriffen.
Der Teamführer hatte verlangt, dass die Außenbeleuchtung des Motels abgeschaltet wurde, damit sein Team sich im Dunkeln annähern konnte. Als seine
Männer jedoch in Stellung zu gehen begannen, ließ der Fahrer des Kühllasters am anderen Ende des Motels seinen Motor an und schaltete die Scheinwerfer ein, deren grelles Licht einige Männer des Teams erfasste. Der Teamleader machte dem ahnungslosen Fahrer verzweifelt Handzeichen; dann rannte er zum Fahrerhaus und forderte ihn auf, schleunigst abzuhauen. Der Fahrer, dem beim Anblick des Teams die Augen aus den Höhlen zu quellen drohten, gehorchte eilig und ließ die Scheinwerfer ausgeschaltet, bis er vom Parkplatz des Motels auf den Highway hinausgerumpelt war.
Der Teamführer gab seinen Männern den Angriffsbefehl, und sie rückten gegen Bournes Motelzimmer vor. Auf ein Handzeichen hin lösten sich zwei Männer aus der Gruppe und verschwanden zur Rückseite des Gebäudes. Der Führer ließ ihnen zwanzig Sekunden Zeit, in Stellung zu gehen, bevor er den Befehl» Gasmasken auf!«gab. Zwei seiner Männer ließen sich auf ein Knie nieder und schossen Tränengasgranaten durchs vordere Fenster des Motelzimmers. Als der ausgestreckte Arm des Führers herabzuckte, brachen seine Männer die Tür auf und erstürmten den Raum. Gasschwaden umhüllten sie, als sie mit schussbereiten Maschinenpistolen eindrangen. Der Fernseher lief, der Ton war leise gestellt. CNN zeigte das Gesicht des Gesuchten. Auf dem fleckigen, abgetretenen Teppichboden waren die Überreste einer hastig eingenommenen Mahlzeit verstreut, und das Bett war abgezogen. Das Zimmer war leer.
Im Laderaum des Kühllasters, der eilends vom Motel wegfuhr, lag Bourne in Bettzeug gehüllt zwischen fast bis zur Decke gestapelten Holzkisten mit Erdbeeren in Plastikkörbchen. Er hatte es geschafft, sich etwas oberhalb der Ladefläche einzurichten, wo die Kisten auf beiden Seiten ihm Halt gaben. Nachdem er hinten eingestiegen war, hatte er die Hecktür hinter sich verriegelt. Wie bei allen Kühllastern ließen die Türen sich auch von innen öffnen und schließen, damit sichergestellt war, dass niemand versehentlich eingesperrt wurde. Bourne hatte kurz seine Stablampe eingeschaltet und einen Mittelgang gesehen, der eben breit genug für einen Mann war. In der Vorderwand rechts oben saß der Lufteinlass des Kühlaggregats.
Plötzlich erstarrte er. Der Sattelschlepper wurde langsamer, als er sich der Straßensperre näherte, dann hielt er ganz. Der Augenblick höchster Gefahr war da.
Schätzungsweise fünf Minuten lang herrschte völlige Stille, dann knarrte die Hecktür, als sie geöffnet wurde. Stimmen drangen an sein Ohr.»Haben Sie Anhalter mitgenommen?«, fragte ein Cop.
«Mmh-hmm«, antwortete Guy, der Trucker.
«Hier, sehen Sie sich dieses Foto an. Haben Sie diesen Mann vielleicht am Straßenrand gesehen?«
«Nein, Sir. Den Kerl hab ich nie gesehen. Was hat er angestellt?«
«Was haben Sie dort drin?«Die Stimme eines zweiten Cops.
«Frische Erdbeeren«, sagte Guy.»Hören Sie, Officers, haben Sie ein Herz. Denen tut’s nicht gut, wenn die Tür offen ist. Was verfault ist, wird mir vom Lohn abgezogen.«
Jemand grunzte. Der Strahl einer starken Stablampe huschte den Mittelgang entlang und suchte genau unter der Stelle, wo Bourne zwischen den Erdbeerkisten lag, den Wagenboden ab.
«Okay«, sagte der erste Cop,»zumachen, Kumpel.«
Die Stablampe erlosch, und die Tür wurde zugeknallt.
Bourne wartete, bis der Sattelschlepper wieder in Fahrt war und über den Highway in Richtung D.C. donnerte, bevor er aus seinem Versteck kroch. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Die Cops mussten Guy dasselbe Foto von Daniel Webb gezeigt haben, das schon CNN gesendet hatte.
Keine halbe Stunde später wurde die gleichmäßige Fahrt auf dem Highway durch Stop-and-go-Verkehr auf Stadtstraßen mit Verkehrsampeln ersetzt. Es wurde Zeit, auszusteigen. Bourne ging nach hinten und betätigte den Sicherheitshebel. Er ließ sich nicht bewegen — auch mit größerer Anstrengung nicht. Leise fluchend schaltete er seine Stablampe ein, die er aus Conklins Haus mitgenommen hatte. Im hellen Kreis des Lichtstrahls sah er, dass der Mechanismus klemmte. Er saß in der Falle.
Kapitel fünf
Bei Tagesanbruch kam der CIA-Direktor zu einer Besprechung mit Roberta Alonzo-Ortiz, der Nationalen Sicherheitsberaterin, zusammen. Sie trafen sich im Lageraum des Präsidenten, einem kreisförmigen Raum tief unter dem Weißen Haus. Viele Stockwerke über ihnen lagen die holzgetäfelten, wundervoll ausgestatteten Räume, die die meisten Leute mit diesem sagenumwobenen historischen Gebäude in Verbindung brachten, aber hier unten gaben ausschließlich Macht und Muskeln der Pentagon-Oligarchen den Ton an. Wie die großen Tempel der alten Zivilisationen war der Lageraum unter dem Weißen Haus für Jahrhunderte erbaut. Und wie es einem solchen Monument der Unbesiegbarkeit zustand, waren seine Abmessungen einschüchternd.
Alonzo-Ortiz, der CIA-Direktor und ihre engsten Mitarbeiter — sowie einige ausgesuchte Secret-Service-Agenten besprachen zum hundertsten Mal die Sicherheitsmaßnahmen beim Terrorismusgipfel in Reykjavik. Auf einer Projektionsfläche standen detaillierte Grundrisse des Hotels Oskjuhlid — mit Hinweisen zu Ein- und Ausgängen, Treppenhäusern, Aufzügen, Dachluken, Fenstern und dergleichen. Zu dem Hotel bestand eine direkte Videoverbindung, sodass Jamie Hull, der dortige Emissär des Direktors, an der Besprechung teilnehmen konnte.
«Fehler werden definitiv nicht toleriert«, sagte Alonzo-Ortiz gerade. Sie war eine imposante Erscheinung mit ra-benschwarzem Haar und glänzenden, scharfen Augen.»Sämtliche Abläufe dieses Gipfels müssen wie ein Uhrwerk funktionieren«, fuhr sie fort.»Jeder Verstoß gegen Sicherheitsmaßnahmen, und sei er noch so geringfügig, hätte fatale Folgen. Er würde das Ansehen Amerikas in den wichtigsten islamischen Staaten, das der Präsident in den letzten achtzehn Monaten mühsam aufgepäppelt hat, wieder ruinieren. Ihnen brauche ich nicht zu erzählen, dass unter der angeblichen Kooperationsbereitschaft angeborenes Misstrauen gegenüber westlichen Werten, der jüdisch-christlichen Ethik und allem, was sie verkörpert, lauert. Jeder Hinweis darauf, der Präsident könnte die Führer der islamischen Staaten irgendwie getäuscht haben, hätte sofort katastrophale Folgen. «Sie sah sich langsam am Konferenztisch um. Zu ihren besonderen Fähigkeiten gehörte die Gabe, jedem einzelnen Teilnehmer das Gefühl zu vermitteln, sie spreche mit ihm persönlich.»Über eines müssen Sie sich im Klaren sein, Gentlemen. Wir sprechen hier über nichts Geringeres als einen globalen Krieg, einen umfassenden Dschihad, wie wir ihn noch nie erlebt haben und den wir uns vermutlich nicht einmal vorstellen können.«