Chan war so schockiert, dass er spürte, dass er weiche
Knie bekam. Er trat an die nächste Wand, lehnte sich dagegen.»Webb?«
«Bestimmt nicht Alex Conklins Geist!«
Zu seinem Verdruss merkte er, dass ihm kalter Schweiß auf der Stirn stand.»Warum sind Sie so sicher, dass er’s ist?«
«Mein Kontaktmann hat ihn mir beschrieben. Ich kenne das Phantombild, das in Umlauf gebracht worden ist.«
Chan knirschte mit den Zähnen. Obwohl er wusste, dass dieses Gespräch wahrscheinlich ein schlimmes Ende nehmen würde, hörte er sich unaufhaltsam weitersprechen.»Sie haben gewusst, dass David Webb mit Jason Bourne identisch ist. Warum haben Sie mir das nicht gesagt?«
«Weil ich keinen Grund dafür gesehen habe«, sagte Spalko gelassen.»Sie haben nach Webb gefragt, und ich habe die gewünschten Informationen geliefert. Es ist nicht meine Gewohnheit, anderer Leute Gedanken zu lesen. Aber ich finde Ihren Unternehmungsgeist lobenswert.«
Chan erlebte einen so starken krampfartigen Hassanfall, dass er sich zittern fühlte. Aber er achtete darauf, weiter ruhig zu sprechen.»Wie lange dürfte Bourne Ihrer Meinung nach brauchen, um seine Hinweise zu Ihnen zurückzuverfolgen, nachdem er nun in Budapest ist?«
«Ich habe bereits Schritte unternommen, um sicherzustellen, dass das nicht passiert«, sagte Spalkos.»Andererseits fällt mir natürlich auf, dass ich mir all diese Mühe hätte sparen können, wenn Sie den Scheißkerl umgelegt hätten, als Sie die Gelegenheit dazu hatten.«
Chan, der diesem Mann misstraute, der ihn belogen und außerdem versucht hatte, ihn als Handlanger zu missbrauchen, spürte einen weiteren Hassanfall wie einen Stich ins Herz. Spalko wollte, dass er Bourne ermordete — aber weshalb? Das würde er herausbekommen müssen, bevor er selbst Rache übte. Als er jetzt weitersprach, hatte er ein wenig von seiner eisigen Selbstbeherrschung eingebüßt, sodass seine Stimme entschieden scharf klang.»Okay, ich lege Bourne um«, sagte er.»Aber das tue ich zu meinen Bedingungen und nach meinem Fahrplan, nicht nach Ihrem.«
Humanistas, Ltd. besaß drei eigene Hangars auf dem Flughafen Ferihegy. In einem davon war ein Lastwagen, der einen Container trug, rückwärts an einen kleinen Jet herangestoßen, dessen silberner Rumpf das Symbol der Hilfsorganisation trug: ein grünes Kreuz mit einer beschützenden Hand. Uniformierte Männer verluden die letzten Waffenkisten in das Geschäftsreiseflugzeug, während Hassan Arsenow den Frachtbrief kontrollierte.
Als er wegging, um mit einem der Uniformierten zu sprechen, wandte Spalko sich an Sina und sagte fast beiläufig:»In einigen Stunden fliege ich nach Kreta. Ich möchte, dass du mich begleitest.«
Sie bekam vor Überraschung große Augen.»Scheich, ich soll mit Hassan nach Tschetschenien zurückkehren, um die letzten Vorbereitungen für unseren Einsatz zu treffen.«
Er hielt ihren Blick fest.»Mit den letzten Vorbereitungen kommt Arsenow auch allein zurecht. Tatsächlich ist er meiner Einschätzung nach besser dran, wenn er nicht durch deine… Nähe abgelenkt wird.«
Sina, die sich von seinem Blick wie aufgespießt fühlte, öffnete leicht den Mund.
«Eines muss unmissverständlich klar sein, Sina. «Spal-ko sah Arsenow zu ihnen zurückkommen.»Ich werde dir nichts befehlen. Die Entscheidung liegt allein bei dir.«
Trotz der Dringlichkeit des Augenblicks sprach er langsam und deutlich, und Sina erfasste die Bedeutung seiner Worte nur allzu gut. Er bot ihr eine Chance — auch wenn sie nicht wusste, wozu —, und ihr war bewusst, dass sie an einem Wendepunkt in ihrem Leben angelangt war. Wofür sie sich auch entschied, ein Zurück würde es nicht geben — das hatte er ihr durch seine nachdrückliche Art unmissverständlich klar gemacht. Die Entscheidung mochte bei ihr liegen, aber sie war sich sicher, dass eine Zurückweisung auf eine noch unbestimmte Weise ihr Ende bedeuten würde. Aber sie wollte gar nicht Nein sagen.
«Ich wollte schon immer mal nach Kreta«, flüsterte sie, bevor Arsenow sie erreichte.
Spalko nickte ihr zu. Dann wandte er sich an den tschetschenischen Terroristenführer.»Alles vollständig?«
Arsenow sah von seinem Schreibbrett auf.»Wie könnte es anders sein, Scheich?«Er sah auf seine Uhr.»Sina und ich fliegen binnen einer Stunde ab.«
«Tatsächlich begleitet Sina die Waffen«, sagte Spalko leichthin.»Die Sendung soll von meinem Fischerboot auf den Färöerinseln übernommen werden. Ich möchte, dass einer von euch beiden die Übergabe und den Weitertransport der Waffen nach Island beaufsichtigt. Du wirst bei deinen Leuten in der Heimat gebraucht. «Er lächelte.»Ich bin überzeugt, dass du Sina ein paar Tage entbehren kannst.«
Arsenow runzelte die Stirn, starrte Sina an, die raffiniert genug war, seinen Blick ausdruckslos zu erwidern, und nickte dann.»Es soll natürlich geschehen, wie du wünschst, Scheich.«
Sina fand es interessant, dass der Scheich Hassan belogen hatte, was seine Absichten in Bezug auf sie betraf. Sie fand sich in der von ihm gewobenen kleinen Verschwörung gefangen: aufgeregt und zugleich nervös vor banger Erwartung. Sie sah den Ausdruck auf Hassans Gesicht und spürte einen kleinen Stich ins Herz, aber dann dachte sie an das Geheimnis, das sie erwartete, und den Honig in der Stimme des Scheichs: In einigen Stunden fliege ich nach Kreta. Ich möchte, dass du mich begleitest.
Neben Sina stehend, streckte Spalko die Hand aus, und Arsenow umfasste nach Kriegerart mit der Linken seinen Unterarm, als er sie ergriff. »La illaha ill Allah.«
«La illaha ill Allah«, erwiderte Arsenow und beugte den Kopf.
«Draußen steht eine Limousine, die dich zum Abflugterminal bringt. Auf Wiedersehen in Reykjavik, mein Freund. «Spalko wandte sich ab, ging zu der Maschine, um kurz mit dem Piloten zu sprechen, und überließ es Sina, sich von ihrem gegenwärtigen Geliebten zu verabschieden.
Chan fühlte sich von ungewohnten Emotionen bedrängt. Als er eine Dreiviertelstunde später darauf wartete, an Bord des Flugzeugs nach Budapest zu gehen, hatte er den Schock über die Nachricht, dass Jason Bourne in Wirklichkeit keineswegs tot war, noch immer nicht überwunden. Er hockte da, hatte seine Ellbogen auf die Knie gestützt, hielt sich den Kopf mit beiden Händen und bemühte sich — jämmerlich vergebens —, die Welt zu verstehen. Für jemanden wie ihn, dessen Vergangenheit jeden Augenblick seiner Gegenwart durchdrang, war es unmöglich, ein Denkschema zu finden, das diese Entwicklung verständlich machte. Die Vergangenheit war ein Rätsel — und seine Erinnerung daran war eine Hure, die den Befehlen seines Unterbewusstseins gehorchte, Tatsachen verzerrte und Ereignisse verkürzte oder ganz ausließ, alles im Dienst des Gifts, das sich in ständig wachsender Menge in ihm ansammelte.
Aber diese Emotionen, die zügellos in seinem Inneren tobten, waren noch zerstörerischer. Er war wütend darüber, dass er Stepan Spalko gebraucht hatte, um zu erfahren, dass Jason Bourne noch lebte. Warum hatte sein normalerweise sehr feiner Instinkt ihn nicht dazu veranlasst, etwas gründlicher nachzuforschen? Wäre ein Agent von Bournes Kaliber frontal gegen einen Lastzug geknallt? Er hatte sich weismachen lassen, die Gerichtsmediziner seien noch dabei, die sterblichen Überreste zu untersuchen, aber die Explosion und der anschließende Brand hätten so wenig übrig gelassen, dass die Identifizierung noch Stunden, vielleicht sogar Tage dauern könne — falls sie überhaupt möglich sei. Er hätte einfach misstrauischer sein müssen. Dies war ein Trick, den er selbst hätte benützen können; tatsächlich hatte er vor drei Jahren, als er eiligst aus den Docks von Singapur hatte verschwinden müssen, eine Variante dieses Tricks benützt.
Aber es gab noch eine weitere Frage, die ihm immer wieder durch den Kopf ging, und obwohl er sich bemühte, sie abzublocken, gelang ihm das nicht. Was hatte er in exakt dem Augenblick empfunden, in dem er erfahren hatte, dass Jason Bourne noch lebte? Freudige Erregung? Angst? Wut? Verzweiflung? Oder eine Kombination aus allen diesen Empfindungen — ein beängstigendes Kaleidoskop, dessen Bilder ständig wechselten?