Nachdem er geduscht hatte, nahm er einige Utensilien aus einem kleinen Beutel mit und verließ sein Zimmer. Über die Treppe gelangte er in die Penthouse-Etage hinauf. Oben blieb er sehr lange auf dem Korridor stehen, horchte einfach nur, gewöhnte sich an die in jedem Gebäude zu hörenden kleinen Geräusche. Er stand unbeweglich da und wartete auf etwas — einen Laut, eine Vibration, ein Gefühl —, das ihm sagen würde, ob er weitergehen oder den Rückzug antreten sollte.
Als sich nichts Verdächtiges erkennen ließ, setzte Chan sich endlich vorsichtig in Bewegung, erkundete den gesamten Korridor und vergewisserte sich, dass zumindest hier keine Gefahr drohte. Zuletzt stand er vor der polierten zweiflügligen Teakholztür von Penthouse 3. Aus einem kleinen Besteck wählte er einen Dietrich aus. Keine Minute später öffnete er die Tür.
Chan blieb wieder eine Zeit lang auf der Schwelle stehen und nahm die Atmosphäre der Suite in sich auf. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie leer war. Trotzdem musste er sich vor einer Falle in Acht nehmen. Während langer Schlafmangel und die auf ihn einstürzenden Emotionen ihn leicht schwanken ließen, suchte er den Raum ab. Außer den Überresten eines Päckchens, das ungefähr die Größe eines Schuhkartons gehabt haben musste, wies kaum etwas darauf hin, dass diese Suite vor kurzem bewohnt worden war. Das Bett schien noch unbenutzt zu sein. Aber wo ist Bourne jetzt? fragte Chan sich.
Schließlich konzentrierte er sich wieder darauf, was er hier zu tun hatte, ging durch die Suite ins Bad und machte Licht. Auf der Ablage vor dem Spiegel sah er die
Toilettenartikel — Kunststoffkamm, Zahnbürste, Zahnpasta und ein winziges Fläschchen Mundwasser —, die das Hotel ebenso wie Seife, Shampoo und Handcreme zur Verfügung gestellt hatte. Er schraubte die Zahnpastatube auf, drückte etwas von dem Inhalt ins Waschbecken, spülte es weg. Dann holte er eine Büroklammer und ein kleines Silberdöschen aus seiner Jackentasche. Das Döschen enthielt zwei Kapseln aus schnell löslicher Gelatine. Eine war weiß, die andere schwarz.
«One pill makes your heart beat, the other makes it slow, and the pills that Father gives you don’t do anything at all«, sang er mit klarer Tenorstimme zur Melodie von» White Rabbit«, als er die weiße Kapsel herausnahm.
Chan wollte sie gerade in die aufgeschraubte Zahnpastatube stecken und mit einem Ende der Büroklammer in die weiche Masse drücken, als ihn irgendetwas daran hinderte. Er zählte bis zehn, dann schraubte er die Tube wieder zu und legte sie genauso hin, wie er sie vorgefunden hatte.
Er stand einige Augenblicke lang verwirrt da und starrte die beiden Kapseln an, die er selbst angefertigt hatte. Als er sie vorbereitet hatte, hatte er genau gewusst, wozu sie dienen sollten: Im Gegensatz zu der sofort tödlich wirkenden schwarzen Kapsel enthielt die weiße nur eben genug Gift einer Ceylon-Krait-Schlange, um Bournes Körper zu lähmen, während sein Verstand klar und er selbst völlig ansprechbar blieben. Bourne wusste mehr über Spalkos Absichten als Chan; er musste mehr über ihn wissen, denn er war der aufgenommenen Fährte bis zu Spalkos Zentrale gefolgt. Chan wollte erfahren, was Bourne wusste, bevor er ihn umbrachte. Zumindest redete er sich das selbst ein.
Aber er konnte unmöglich noch länger leugnen, dass es in seinem Verstand, der so lange von fiebrigen Rachevisionen erfüllt gewesen war, in letzter Zeit Raum für andere Szenarien gab. Auch wenn er noch so viel Energie aufwandte, um sie zu verdrängen, hielten sie sich hartnäckig. Tatsächlich, das erkannte er jetzt, weigerten sie sich umso hartnäckiger, zu verschwinden, je energischer er sie zu unterdrücken versuchte.
Er kam sich wie ein Idiot vor, als er, im Hotelzimmer seines Feindes stehend, außerstande war, seinen sorgfältig ausgearbeiteten Plan in die Tat umzusetzen. Stattdessen erschien vor seinem inneren Auge wieder Bournes Gesichtsausdruck beim Anblick des aus Stein geschnittenen Buddhas, den er an einer Goldkette um den Hals trug. Als er jetzt nach dem Buddha griff, empfand er wie immer ein Gefühl des Trosts und der Sicherheit, das die glatte, schwere Form der kleinen Statue ihm vermittelte. Was war nur mit ihm los?
Mit einem ärgerlichen kleinen Grunzlaut wandte er sich ab und stolzierte aus der Suite. Auf der Treppe zur Hotelhalle hinunter zog er sein Handy aus der Tasche und tippte eine Budapester Telefonnummer ein. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich eine Stimme.
«Ja?«, sagte Ethan Hearn.
«Wie läuft’s in Ihrem Job?«
«Oh, es gefällt mir eigentlich ganz gut.«
«Genau wie ich vorhergesagt habe.«
«Wo sind Sie jetzt?«, fragte der neu angestellte Spendenwerber von Humanistas, Ltd.
«Budapest.«
«Das überrascht mich«, sagte Hearn.»Ich dachte, Sie hätten einen Auftrag in Ostafrika.«
«Den habe ich abgelehnt«, erklärte Chan ihm. Er hatte die Hotelhalle erreicht und durchquerte sie jetzt auf dem Weg zur Drehtür.»Tatsächlich stehe ich für einige Zeit nicht mehr zur Verfügung.«
«Etwas ziemlich Wichtiges muss Sie hergeführt haben.«
«Ihr Boss, wenn Sie’s genau wissen wollen. Was haben Sie über ihn in Erfahrung bringen können?«
«Nichts Konkretes, aber er plant etwas, das steht fest, und es ist sehr, sehr groß.«
«Wie kommen Sie darauf?«, fragte Chan.
«Erstens hat er ein tschetschenisches Paar bei sich zu Gast gehabt«, antwortete Hearn.»Auf den ersten Blick war das nicht verdächtig. Schließlich haben wir in Tschetschenien ein wichtiges Hilfsunternehmen laufen. Und trotzdem war es seltsam, sehr seltsam, denn obwohl die beiden westlich gekleidet waren — der Mann war bartlos, die Frau hat kein Kopftuch getragen —, habe ich sie erkannt… nun, zumindest ihn. Er war Hassan Arsenow, der tschetschenische Rebellenführer.«
«Bitte weiter«, drängte Chan, der schon jetzt dachte, sein Maulwurf habe sich reichlich bezahlt gemacht.
«Und vorgestern Abend hat er mich aufgefordert, in die Oper zu gehen«, fuhr Hearn fort.»Angeblich wollte er mit meiner Hilfe einen reichen Geldgeber namens Laszlo Molnar ködern.«
«Was ist daran so seltsam?«, fragte Chan.
«Zwei Dinge«, sagte Hearn.»Erstens hat Spalko mich mitten am Abend abgelöst. Er hat mir praktisch befohlen, den nächsten Tag freizunehmen. Zweitens ist Mol-nar seitdem verschwunden.«
«Verschwunden?«
«Spurlos verschwunden, als habe er nie existiert«, bestätigte Hearn.»Spalko hält mich für zu naiv, um das zu überprüfen. «Er lachte halblaut.
«Bloß kein übertriebenes Selbstbewusstsein«, warnte Chan ihn.»Dann fängt man an, Fehler zu machen. Und denken Sie daran, was ich gesagt habe: Unterschätzen Sie Spalko nicht! Sobald Sie das tun, sind Sie so gut wie tot.«
«Schon verstanden, Chan. Jesus, ich bin schließlich kein Dummkopf.«
«Wären Sie einer, stünden Sie nicht auf meiner Gehaltsliste«, erinnerte Chan ihn.»Wissen Sie, wo dieser Laszlo Molnar wohnt?«
Ethan Hearn gab ihm die Adresse.
«Jetzt«, sagte Chan,»brauchen Sie nur noch Augen und Ohren offen zu halten und in Deckung zu bleiben. Ich will alles, was Sie über ihn in Erfahrung bringen können.«
Jason Bourne beobachtete, wie Annaka Vadas die Leichenhalle verließ, in die sie vermutlich von der Polizei gebracht worden war, um ihren erschossenen Vater und seine drei Begleiter zu identifizieren. Der Attentäter war beim Sturz vom Dach mit dem Kopf voraus aufgeschlagen, was eine Identifizierung mit Hilfe seines Zahnschemas ausschloss. Die Polizei war vermutlich dabei, Interpol seine Fingerabdrücke zu übermitteln. Bourne hatte Gesprächsfetzen in der Matthiaskirche mitbekommen, und die Polizei fragte sich nun völlig zu Recht, weshalb ein Profikiller auf Janos Vadas angesetzt worden war, aber Annaka gab vor, sie könne sich das auch nicht erklären, sodass die Polizei schließlich kapitulierte. Sie ahnte natürlich nichts von Bournes Verwicklung in diese Sache. Er hatte notwendigerweise einen weiten Bogen um die