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Nachdem Annaka überall Licht gemacht hatte, ging sie in die Küche und setzte Teewasser auf. Aus einem butterblumengelben Hängeschrank nahm sie Tassen und Untertassen, und während der Tee zog, schraubte sie eine Flasche auf und kippte in jede Tasse einen kräftigen Schuss Rum.

Sie machte den Kühlschrank auf.»Möchten Sie etwas essen? Käse, ein Wurstbrot?«Sie sprach mit ihm wie mit einem alten Freund.

«Danke, ich habe keinen Hunger.«

«Ich auch nicht. «Sie schloss seufzend die Tür. Seit sie sich dafür entschieden hatte, ihn mit in ihre Wohnung zu nehmen, schien sie ihre Abwehrhaltung aufgegeben zu haben. Von Janos Vadas oder Bournes vergeblicher Verfolgung des Mörders wurde nicht mehr gesprochen. Das war ihm nur recht.

Sie gab ihm seinen Tee mit Rum, sie gingen ins Wohnzimmer und setzten sich auf das uralte Sofa.

«Mein Vater hat mit einem professionellen Vermittler namens Laszlo Molnar zusammengearbeitet«, sagte sie ohne Vorrede.»Er war derjenige, der Dr. Schiffer versteckt hatte.«

«Versteckt?«Bourne schüttelte den Kopf.»Das verstehe ich nicht.«

«Dr. Schiffer war entführt worden.«

Bournes nervöse Spannung wuchs.»Von wem?«

Sie schüttelte den Kopf.»Mein Vater hat’s gewusst, aber ich nicht. «Sie runzelte die Stirn, während sie sich konzentrierte.»Deshalb hat Alexej sich ursprünglich mit ihm in Verbindung gesetzt. Er brauchte die Hilfe meines

Vaters, um Dr. Schiffer zu befreien und an einen geheimen, sicheren Ort zu bringen.«

Plötzlich hatte er Mylene Dutroncs Stimme im Ohr:

«An jenem Tag hat Alex in ganz kurzer Zeit viele Anrufe bekommen und selbst viel telefoniert. Er war schrecklich nervös, und ich wusste, dass irgendein wichtiges Unternehmen in die kritische Phase getreten war. Bei dieser Gelegenheit habe ich mehrmals Dr. Schiffers Namen gehört und vermute daher, dass das Unternehmen ihm gegolten hat.«Dies war das wichtige Unternehmen gewesen.

«Ihrem Vater ist es also gelungen, Dr. Schiffer zu befreien.«

Annaka nickte. Der Lampenschein ließ ihr Haar in tiefem Kupferrot leuchten. Es beschattete die halbe Stirn und ihre Augen. Sie saß leicht nach vorn gebeugt mit geschlossenen Knien da und hielt ihre Teetasse mit beiden Händen umfasst, als wolle sie die Wärme des Tees in sich aufnehmen.

«Sobald mein Vater Dr. Schiffer befreit hatte, hat er ihn Laszlo Molnar übergeben. Das war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Alexej und er hatten schreckliche Angst vor seinem Entführer.«

Auch das stimmte mit dem überein, was Mylene ihm erzählt hatte: »An jenem Tag war er ängstlich.«

Bournes Verstand arbeitete auf Hochtouren.»Annaka, damit dies alles einen Sinn ergibt, müssen Sie verstehen, dass die Ermordung Ihres Vaters ein sorgfältig geplantes Unternehmen war. Der Attentäter war schon vor uns in der Kirche, und er hat gewusst, dass Ihr Vater kommen würde.«

«Wie meinen Sie das?«

«Ihr Vater ist erschossen worden, bevor er mir erzählen konnte, was ich wissen wollte. Jemand will verhindern, dass ich Dr. Schiffer finde, und nun stellt sich immer deutlicher heraus, dass dieser Jemand der Mann sein muss, der Dr. Schiffer entführt hat und vor dem Alexej und Ihr Vater Angst hatten.«

Annaka machte große Augen.»Dann ist Laszlo Molnar jetzt möglicherweise in Gefahr.«

«Kann dieser Unbekannte von der Verbindung Ihres Vaters zu Molnar gewusst haben?«

«Mein Vater war äußerst vorsichtig, sehr sicherheitsbewusst, deshalb halte ich das für unwahrscheinlich. «Ihre Augen waren dunkel vor Angst, als sie ihn jetzt ansah.»Andererseits ist seine Abwehr in der Matthiaskirche durchbrochen worden.«

Bourne nickte zustimmend.»Wissen Sie, wo Molnar wohnt?«

Annaka fuhr sie zu Molnars Apartment im eleganten Botschaftsviertel Roszadomb oder Rosenhügel. Budapest präsentierte sich mit einer unglaublichen Vielfalt von Gebäuden aus hellem Stein, mit ornamental geschmückten Fensterstürzen und Gesimsen, üppig verziert wie Geburtstagstorten, malerischen Pflastergassen, schmiedeeisernen Balkonen mit Blumenkästen, Kaffeehäusern, die von kunstvollen Kronleuchtern erhellt wurden, deren gelbes Licht rötliche Wandtäfelungen beleuchtete, und bunt leuchtenden Glasfenstern in unverfälschten Jugendstilmustern. Wie Paris wurde diese Stadt zuallererst durch den mächtigen Fluss definiert, der sie in zwei Teile zerschnitt, und danach durch die Brücken, die ihn überspannten. Darüber hinaus war Budapest eine Stadt aus behauenem Stein mit gotischen Türmen, breiten

Treppenanlagen, angestrahlten Wällen, mit Kupfer eingedeckten Kuppeln, efeubewachsenen Mauern, monumentalen Statuen und glitzernden Mosaiken. Und wenn es regnete, wurden entlang der Donau Schirme, tausende von Schirmen, wie Segel aufgespannt.

Alles das und noch mehr bewegte Bourne zutiefst. Er hatte das Gefühl, in einer Stadt anzukommen, an die er sich aus einem Traum erinnerte — mit der für Träume charakteristischen übernatürlichen Klarheit, die von ihrer direkten Verbindung zum Unterbewusstsein herrührt. Und trotzdem konnte er den Emotionen, die aus seinem bruchstückhaften Gedächtnis aufstiegen, keine spezifische Erinnerung abringen.

«Was haben Sie?«, fragte Annaka, als spüre sie sein Unbehagen.

«Ich bin schon einmal hier gewesen«, sagte er.»Erinnern Sie sich daran, dass ich gesagt habe, die hiesige Polizei könne unangenehm sein?«

Sie nickte.»Damit haben Sie völlig Recht. Aber soll das heißen, dass Sie nicht wissen, woher Sie das wissen?«

Er lehnte den Kopf an die Kopfstütze.»Vor vielen Jahren hatte ich einen schrecklichen Unfall. In Wirklichkeit war’s gar kein Unfall. Ich bin auf einem Boot angeschossen worden und über Bord gefallen. Schock, Blutverlust und Unterkühlung hätten mich beinahe das Leben gekostet. Ein Arzt auf der französischen Ile de Port Noir hat mir die Kugel herausgeschnitten und mich gesund gepflegt. Körperlich war ich bald wieder ganz gesund, aber mein Gedächtnis war beeinträchtigt. Nach anfänglichem Gedächtnisverlust sind in einem langsamen, schmerzhaften Prozess Bruchstücke meines früheren Lebens wieder aufgetaucht. Aber ich muss mit der Wahr-heit leben, dass ich mein Gedächtnis wohl niemals vollständig wieder erlangen werde.«

Annaka fuhr schweigend weiter, aber ihr Gesichtsausdruck zeigte ihm, dass seine Erzählung sie bewegte.

«Sie können sich gar nicht vorstellen, wies ist, nicht zu wissen, wer man ist«, sagte er.»Bis es einem selbst zustößt, kann man nicht wissen oder gar erklären, wie man sich dabei fühlt.«

«Wie Treibgut.«

Er sah zu ihr hinüber.»Ja.«

«Auf hoher See treibend, nirgends Land in Sicht, weder Sonne, Mond noch Sterne, nach denen man seinen Kurs setzen könnte, um wieder die Heimat zu erreichen.«

«Ganz ähnlich. «Bourne war überrascht. Er wollte sie fragen, woher sie das wisse, aber dann hielten sie bereits vor einem prächtig restaurierten Jugendstilgebäude.

Sie stiegen aus und betraten den Windfang. Als Annaka einen Knopf drückte, flammte eine schwache Glühbirne auf, deren trübes Licht den Mosaikfußboden und eine lange Reihe von Klingelknöpfen beleuchtete. Niemand reagierte, als sie bei Laszlo Molnar klingelten.

«Das braucht nichts zu bedeuten«, meinte Annaka.»Wahrscheinlich ist er bei Dr. Schiffer.«

Bourne trat an die breite, massive Haustür mit ihrer in Hüfthöhe beginnenden geätzten Milchglasscheibe.»Das werden wir gleich feststellen.«

Er beugte sich zu dem Schloss hinunter und hatte es wenig später offen. Annaka drückte einen weiteren Knopf, der das Licht in der Eingangshalle dreißig Sekunden lang einschaltete, während sie auf der breiten Treppe zu Molnars Apartment im ersten Stock vorausging.

Mit der Wohnungstür hatte Bourne etwas mehr Schwierigkeiten, aber dann war auch dieses Schloss geknackt. Annaka wollte hineinstürmen, aber er hielt sie zurück. Er zog seine Keramikpistole und stieß die Tür langsam auf. Dahinter brannte Licht, aber in dem Apartment war es totenstill. Als sie vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer, ins Bad und dann in die Küche gingen, fanden sie die gesamte Wohnung tadellos sauber und aufgeräumt vor. Nichts wies darauf hin, dass hier ein Kampf stattgefunden haben könnte, und von Molnar war keine Spur zu entdecken.