Er hatte tatsächlich gefeiert, als der Direktor ihm mitgeteilt hatte, Bourne könnte nach Reykjavik unterwegs sein. Die Vorstellung, Bourne habe seinen alten Mentor ermordet und sei zu einem bösartigen Einzelgänger geworden, hatte sein Blut in Wallung gebracht. Hätte Conklin sich bloß für Jamie Hull entschieden, dachte er, dann wäre er noch am Leben. Der Gedanke, er könnte derjenige sein, der Bourne im Auftrag der Agency liquidierte, war ihm als wahr gewordener Traum erschienen. Aber dann hatte er die Nachricht von Bournes Unfalltod erhalten, und seine Hochstimmung hatte sich in Niedergeschlagenheit verwandelt. Hull war zunehmend reizbar geworden — auch im Umgang mit den Secret-Service-Agenten, mit denen er offen und vertrauensvoll hätte zusammenarbeiten müssen. Da es für ihn nun keinerlei Erfüllung gab, bedachte er Karpow mit einem mörderischen Blick, der nicht minder grimmig erwidert wurde.
Bourne fuhr nicht mit dem Aufzug nach unten, als er Annakas Wohnung verließ. Stattdessen ging er die kurze Betontreppe zum Dach hinauf. Oben war die Tür mit einer Alarmanlage gesichert, die er leicht und schnell überwand.
Die Sonne hatte den Nachmittag schiefergrauen Wolken und einem böigen frischen Wind überlassen. Ein Blick nach Süden zeigte Bourne die vier prächtigen Kuppeln der Kiraly-Bäder. Er trat an die Dachbrüstung und lehnte sich an ungefähr der Stelle hinüber, an der Chan vor weniger als einer Stunde gestanden hatte.
Von diesem Aussichtspunkt aus suchte er die Straße ab, erst nach jemandem, der in einem dunklen Hauseingang stand, dann nach Fußgängern, die zu langsam gingen oder ganz stehen blieben. Er beobachtete zwei junge Frauen, die eingehakt vorbeispazierten, eine Mutter mit Kinderwagen und einen alten Mann, den er genauer betrachtete, weil er sich an Chans chamäleonartige Wandelbarkeit erinnerte.
Als er nichts Verdächtiges fand, konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf die unten geparkten Autos und hielt Ausschau nach etwas Ungewöhnlichem. Alle ungarischen Leihwagen mussten einen Aufkleber tragen, der sie als solche auswies. In diesem Wohnviertel war ein Leihwagen etwas, für das er sich würde interessieren müssen.
Er entdeckte einen schwarzen Skoda, der schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite stand, und begutachtete seine Position. Am Steuer sitzend musste man den Eingang des Gebäudes 106–108 Fo utca ungehindert beobachten können. Im Augenblick saß jedoch niemand am Steuer oder im Fond des Leihwagens.
Bourne wandte sich ab und ging mit großen Schritten übers Dach zurück.
Chan kauerte im Treppenhaus in Bereitschaft und sah Bourne auf sich zukommen. Dies war seine große Chance, das wusste er. Bourne dachte bestimmt nur an Überwachungsprobleme und war völlig ahnungslos. Wie in einem Traum — ein Traum, der ihn seit vielen Jahren quälte — sah er Bourne mit geistesabwesendem Blick direkt auf sich zukommen. Chan fühlte Wut in sich aufsteigen. Dies war der Mann, der neben ihm gesessen und ihn nicht wiedererkannt hatte; der sich geweigert hatte, ihn zu akzeptieren, als er sich zu erkennen gegeben hatte. Das verstärkte nur Chans Überzeugung, Bourne habe ihn nie gewollt, er sei nur allzu gern bereit gewesen, wegzulaufen und ihn im Stich zu lassen.
Und so erhob Chan sich jetzt mit dem Zorn des Gerechten. Als Bourne in den Schatten hinter der Tür trat, traf er seine Nase mit einem Kopfstoß. Blut spritzte, und Bourne taumelte rückwärts. Um seinen Vorteil auszunützen, setzte Chan sofort nach, aber Bourne trat nach ihm.
«Che-sah!«, keuchte Bourne.
Chan steckte den Tritt weg, indem er ihn teilweise ablenkte, und klemmte Bournes Fußknöchel mit dem linken Arm gegen seinen Körper. Aber sein Gegner überraschte ihn. Statt das Gleichgewicht zu verlieren, richtete er sich auf, stemmte Gesäß und Rücken gegen die Stahltür, trat mit dem rechten Fuß nach Chan und traf seine rechte Schulter mit einem so gewaltigen Tritt, dass Chan seinen linken Fuß loslassen musste.
«Mee-sah!«, rief Bourne halblaut.
Er stürzte sich auf Chan, der wie vor Schmerzen zitterte, während er mit starr gestreckten Fingern Bournes Brustbein traf. Im nächsten Augenblick bekam er Bournes Kopf mit beiden Händen zu fassen und schlug ihn gegen die Stahltür zum Dach. Bournes Blick wurde verschwommen.
«Was hat Spalko vor?«, fragte Chan scharf.»Weißt du’s?«
Schock und Schmerzen bewirkten, dass sich vor Bournes Augen alles drehte. Er strengte sich an, um wieder deutlich sehen und klar denken zu können.
«Wer… ist Spalko?«Seine Stimme klang schwammig, schien aus weiter Ferne zu kommen.
«Das weißt du natürlich!«
Bourne schüttelte den Kopf, was einen Hagel von Schlägen auslöste, die seinen Kopf fast gleichzeitig trafen. Er schloss kurz die Augen.
«Ich dachte. ich dachte, du wolltest mich umbringen.«
«Hör mir gefälligst zu!«
«Wer bist du?«, flüsterte Bourne heiser.»Woher weißt du von meinem Sohn? Woher weißt du von Joshua?«
«Hör mir zu!«Chan brachte seinen Kopf dicht an Bournes heran.»Stepan Spalko ist der Mann, der Alex Conklin hat ermorden lassen und dir diesen Mord angehängt hat — er hat uns beide reingelegt. Weshalb hat er das getan, Bourne? Du weißt es, und ich muss es wissen!«
Bourne hatte das Gefühl, sich in einem Traum zu befinden, in dem alles unendlich langsam ablief. Er konnte nicht klar denken und keinen vernünftigen Gedanken fassen. Dann fiel ihm etwas auf, das so merkwürdig war, dass es die seltsame Trägheit überwand, die ihn befallen hatte. Es handelte sich um etwas, das in Chans rechtem Ohr steckte. Aber was war das? Als er den Kopf unter Schmerzen leicht drehte, sah er, dass das Ding ein elektronischer Miniempfänger war.
«Wer bist du?«, fragte er.»Gottverdammt noch mal, wer bist du?«
Hier schienen zwei Gespräche gleichzeitig stattzufinden, als gehörten die beiden Männer verschiedenen Welten an, als lebten sie in zwei unterschiedlichen Leben. Sie erhoben die Stimmen, ihre Emotionen brachten sie bis zur Weißglut, und je mehr sie sich anschrien, desto weiter schienen sie sich voneinander zu entfernen.
«Ich hab’s dir gesagt!«Chans Hände waren mit Bournes Blut bedeckt, das jetzt um seine Nasenlöcher herum zu gerinnen schien.»Ich bin dein Sohn!«
Mit diesen Worten wurde der Stillstand durchbrochen, und ihre Welten kollidierten erneut. Die Wut, die bis in Bournes Faust vorgedrungen war, als der Hoteldirektor ihn abwimmeln wollte, donnerte wieder in seinen Ohren. Mit einem Aufschrei trieb er Chan rückwärts durch die Tür, aufs Dach hinaus.
Er ignorierte seine Kopfschmerzen, hakte einen Fuß hinter Chans Beine und brachte ihn so zu Fall. Aber Chan riss ihn im Fallen mit, zog die Beine an, als er auf den Rücken krachte, stemmte Bourne hoch und stieß ihn mit solcher Gewalt fort, dass er sich in der Luft überschlug.
Bourne zog den Kopf ein und landete mit einer Schulterrolle, sodass der größte Teil der Aufprallenergie absorbiert wurde. Beide kamen mit ausgestreckten Armen und den Gegner abtastenden Fingern gleichzeitig wieder auf die Beine. Dann zuckten Bournes Arme plötzlich herab, schlugen auf Chans Handgelenke, lösten seinen Griff und drehten ihn zur Seite. Bourne brachte einen Kopfstoß an, der den Nervenknoten dicht hinter Chans linkem Ohr traf. Eine Körperhälfte des Getroffenen wurde taub, und Bourne nutzte seinen Vorteil und traf Chans Gesicht mit einer rechten Geraden.
Chan taumelte mit leicht nachgebenden Knien, aber wie ein angeschlagener Schwergewichtler weigerte er sich, zu Boden zu gehen. Bourne griff wie ein gereizter Stier wieder und wieder an und trieb ihn mit jedem Boxhieb weiter in Richtung Dachbrüstung zurück. In seiner blinden Wut machte er jedoch den Fehler, seine Deckung zu vernachlässigen. Er war völlig überrascht, als Chan nach dem nächsten Schlag nicht weiter zurückwich, sondern sich im Gegenteil mit seinem vollem Gewicht nach vorn warf. Eine ansatzlos geschlagene Gerade ließ Bournes Zähne klappern, bevor sie ihn von den Beinen holte.