Bourne sank auf die Knie, und Chan traf ihn mit einem gewaltigen Tritt in die Herzgrube. Er wäre zur Seite gekippt, aber Chan packte ihn an der Kehle und drückte zu.
«Raus mit der Sprache«, verlangte er heiser.»Sag mir alles, was du weißt.«
Bourne keuchte vor Anstrengung und Schmerzen.»Zum Teufel mit dir!«
Chan traf seinen Unterkiefer mit einem Handkantenschlag.
«Wann wirst du endlich vernünftig?«
«Versuchs mit mehr Kraft«, sagte Bourne.
«Du bist komplett übergeschnappt.«
«Darauf legst du’s an, was?«Bourne schüttelte verbissen den Kopf.»Diese ganze verrückte Geschichte, dass du Joshua sein sollst.«
«Ich bin dein Sohn.«
«Hör dir das bloß an — du kannst nicht mal seinen Namen sagen. Schluss jetzt mit dieser Farce; sie nützt dir nichts mehr. Du bist ein international gesuchter Attentäter namens Chan. Ich denke gar nicht daran, dich zu diesem Spalko oder sonst jemandem zu führen. Ich lasse mich von niemandem mehr als Werkzeug missbrauchen.«
«Du weißt nicht, was du tust. Du weißt nicht, was. «Chan verstummte, schüttelte heftig den Kopf, versuchte es anders. Mit der freien Hand wies er den kleinen aus
Stein geschnittenen Buddha vor.»Sieh dir den an, Bourne!«Er spuckte die Wörter aus, als seien sie vergiftet. »Sieh ihn dir an!«
«Ein Talisman, den jeder in Südostasien kaufen kann.«
«Aber nicht diesen. Den hast du mir geschenkt — ja, das hast du getan. «Seine Augen blitzten, und in seiner Stimme schwang ein Beben mit, das er nicht unterdrücken konnte, so peinlich es ihm auch war.»Und dann hast mich verlassen, damit ich im Dschungel.«
In diesem Augenblick fiel ein Schuss. Als die Kugel neben Chans rechtem Bein einschlug und als Querschläger davonsurrte, ließ er Bourne los und sprang zurück. Ein zweiter Schuss hätte ihn fast an der Schulter getroffen, doch er wich hastig hinter den Mauerwürfel mit der Aufzugmechanik zurück.
Bourne drehte den Kopf zur Seite und sah Annaka, die ihre Waffe mit beiden Händen umklammert hielt, oben an der Treppe kauern. Jetzt kam sie vorsichtig näher. Sie riskierte einen kurzen Blick zu Bourne hinüber.
«Bist du in Ordnung?«
Er nickte, aber im selben Augenblick nutzte Chan die Gelegenheit, um sein Versteck zu verlassen, mit wenigen Sätzen das Dach zu überqueren und aufs Dach des Nachbarhauses zu springen. Bourne war es recht, dass Annaka nicht wild hinter ihm her schoss, sondern ihre Pistole sinken ließ und sich ihm zuwandte.
«Du bist nicht in Ordnung!«, sagte sie.»Du bist voller Blut!«
«Das ist nur Nasenbluten. «Er fühlte sich leicht schwindlig, als er sich aufsetzte. Ihr zweifelnder Gesichtsausdruck veranlasste ihn dazu, hinzuzufügen:»Es sieht vielleicht nach viel Blut aus, ist aber nicht weiter schlimm.«
Sie drückte einige Papiertaschentücher an seine Nase, als er wieder zu bluten begann.
«Danke.«
Annaka betrachtete ihn stirnrunzelnd.»Du hast gesagt, du müsstest etwas aus deinem Hotel holen. Wieso bist du dann aufs Dach gegangen?«
Er rappelte sich langsam auf, was ihm jedoch nicht ohne ihre Hilfe gelang.»Augenblick!«Sie sah in die Richtung, in die Chan verschwunden war, dann wandte sie sich wieder Bourne zu. Ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass ihr ein Licht aufgegangen war.»Das war der Kerl, der uns beobachtet hat, stimmt’s? Der Mann, der die Polizei angerufen hat, als wir in Laszlo Molnars Apartment waren.«
«Das weiß ich nicht.«
Sie schüttelte den Kopf.»Ich glaube dir nicht. Nur damit lässt sich erklären, weshalb du mich belogen hast. Du wolltest mich nicht beunruhigen, weil du behauptet hattest, in meiner Wohnung wären wir sicher. Was hat sich geändert?«
Bourne zögerte einen Augenblick, dann sah er ein, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als ihr die Wahrheit zu sagen.»Als wir aus dem Cafe gekommen sind, habe ich an deiner Klavierbank frische Kratzer gesehen.«
«Was?«Sie machte große Augen und schüttelte den Kopf.»Das verstehe ich nicht.«
Er dachte an den elektronischen Empfänger in Chans Ohr.»Komm, wir gehen in deine Wohnung, dann zeige ich’s dir.«
Sie zögerte noch, als er sich in Bewegung setzte.»Ich weiß nicht recht.«
Er drehte sich nach ihr um.»Was weißt du nicht?«, fragte er müde.
Ihr Gesichtsausdruck hatte sich verhärtet, doch zugleich wirkte er irgendwie wehmütig.»Du hast mich angelogen.«
«Das habe ich getan, um dich zu schützen, Annaka.«
Ihre großen Augen glitzerten feucht.»Wie soll ich dir jetzt noch vertrauen?«
«Annaka…«
«Sag’s mir bitte, weil ich’s wirklich wissen möchte. «Sie blieb unbeirrbar stehen, und er wusste, dass sie keinen einzigen Schritt in Richtung Treppe machen würde.»Ich brauche eine Antwort, an die ich mich klammern, an die ich glauben kann.«
«Was soll ich denn sagen?«
Sie hob die Arme, ließ sie mit einer Geste, die ärgerliche Verzweiflung ausdrückte, herabfallen.»Merkst du eigentlich, was du tust — dass du alles, was ich sage, gegen mich verwendest?«Sie schüttelte den Kopf.»Wo hast du gelernt, Leute so zu behandeln, dass sie sich wie ein Haufen Scheiße fühlen?«
«Ich wollte verhindern, dass dir etwas passiert«, sagte er. Annaka hatte ihn zutiefst gekränkt, und obwohl er sich um einen gleichmütigen Gesichtsausdruck bemühte, vermutete er, dass sie das sehr wohl wusste.»Ich dachte, ich hätte das Richtige getan. Dieser Meinung bin ich noch immer, auch wenn es bedeutet hat, dir die Wahrheit vorzuenthalten — zumindest für gewisse Zeit.«
Sie starrte ihn lange an. Der böige Wind fuhr in ihr kupferrotes Haar, breitete es wie Vogelschwingen aus. Von der Fo utca drangen die gereizten Stimmen von Leuten herauf, die wissen wollten, was für Geräusche das gewesen waren — Fehlzündungen eines Automotors oder doch Schüsse? Als sie keine Antwort bekamen, wurde es in der Umgebung wieder still, nur ab und zu kläffte ein Hund.
«Du hast geglaubt, du könntest die Situation meistern«, sagte Annaka.»Du hast geglaubt, du könntest ihn meistern.«
Bourne ging steifbeinig zur vorderen Brüstung und beugte sich darüber. Obwohl das unwahrscheinlich war, stand der Leihwagen noch immer dort, war weiterhin leer. Vielleicht gehörte er gar nicht Chan, oder Chan war zu Fuß geflüchtet. Leise ächzend richtete Bourne sich auf. Die Schmerzen kamen in Wellen, die immer gewaltiger gegen den Strand seines Bewusstseins brandeten, weil die Wirkung der durch das Schocktrauma freigesetzten Endorphine abzuklingen begann. Jeder Knochen seines Körpers schien zu schmerzen, aber Unterkiefer und Rippen am allermeisten.
Endlich überwand er sich dazu, ihr ehrlich zu antworten:»Ja, das stimmt wohl.«
Sie hob eine Hand, strich ihr Haar von der Wange zurück.»Wer ist er, Jason?«
Damit hatte sie ihn zum ersten Mal mit seinem Vornamen angesprochen, aber er registrierte diese Tatsache kaum. Im Augenblick bemühte er sich — und scheiterte dabei —, ihr eine Antwort zu geben, die ihn selbst befriedigen würde.
Chan lag ausgestreckt auf der Treppe des Hauses, auf dessen Dach er hinübergesprungen war, und starrte blicklos die nichts sagenden Wände des Treppenhauses an. Er wartete darauf, dass Bourne kommen würde, um ihn zu liquidieren. Oder, das fragte er sich mit der Entschlusslosigkeit eines unter Schock stehenden Mannes, wartete er darauf, dass Annaka Vadas ihre Pistole auf ihn richten und abdrücken würde? Er hätte in seinem Leihwagen sitzen und davonrasen müssen, aber stattdessen lag er hier: reglos wie eine in einem Spinnennetz gefangene Fliege.
Das Wort» hätte «beherrschte seinen auf Hochtouren arbeitenden Verstand. Er hätte Bourne erschießen sollen, als er ihn erstmals im Visier gehabt hatte, aber damals hatte er einen Plan gehabt, der ihm vernünftig erschienen war, den er sorgfältig ausgearbeitet hatte, der ihm — das hatte er damals geglaubt! — das Maximum an Rache bringen würde, auf das er ein Anrecht hatte. Er hätte Bourne im Laderaum des nach Paris startenden Frachtflugzeugs erledigen sollen. Das war natürlich seine Absicht gewesen- genau wie vorhin.