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Er hätte sich leicht einreden können, er sei durch An-naka Vadas bei der Ausführung seines Plans gestört worden, aber die erschreckende, unbegreifliche Wahrheit war, dass er seine Chance gehabt hatte, bevor sie auf der Bildfläche erschienen war, und sich dazu entschlossen hatte, sich nicht an Bourne zu rächen.

Weshalb? Das konnte er sich trotz aller Mühe unmöglich erklären.

Sein Verstand, der sonst so unerschütterlich ruhig war, sprang von Erinnerung zu Erinnerung, als finde er die Gegenwart unerträglich. Er erinnerte sich an den Raum, in dem er in den Jahren bei dem vietnamesischen Waffenschmuggler eingesperrt gewesen war, an seinen kurzen Augenblick der Freiheit, bevor der Missionar Richard Wick ihn gerettet hatte. Er erinnerte sich an Wicks

Haus, sein Gefühl von Ungebundenheit und Freiheit, das allmählich erodiert war, und an den schleichenden Horror seiner Zeit bei den Roten Khmer.

Der schlimmste Teil — der Teil, den er zu vergessen versuchte — war jedoch, dass er sich ursprünglich zur Philosophie der Roten Khmer hingezogen gefühlt hatte. Weil die Bewegung von jungen Kambodschanern gegründet worden war, die ihre Ausbildung in Paris genossen hatten, wollte es eine Ironie des Schicksals, dass ihr Ethos auf dem französischen Nihilismus basierte.»Die Vergangenheit bedeutet Tod! Zerstört alles, um eine neue Zukunft zu erschaffen!«Das war das Mantra der Roten Khmer, das gebetsmühlenartig wiederholt wurde, bis diese Wahnvorstellung schließlich alle anderen Gedanken oder Ansichten zermalmt hatte.

Dass ihre Weltsicht anfangs auf Chan — selbst ein unfreiwilliger Flüchtling, verlassen, an den Rand gedrängt —, der nicht aus freien Stücken, sondern durch widrige Umstände zu einem Verlorenen geworden war, anziehend wirken würde, war kaum überraschend. Für Chan war die Vergangenheit gleichbedeutend mit Tod — das bezeugte sein wiederkehrender Albtraum. Aber wenn er erstmals bei den Roten Khmer lernte, wie man zerstörte, dann lag das daran, dass sie zuerst ihn zerstört hatten.

Da sie sich nicht damit zufrieden gegeben hatten, die Geschichte seiner Aussetzung zu glauben, hatten sie ihn langsam seines Lebens und seiner Energie beraubt, indem sie ihn jeden Tag hatten bluten lassen. Sie wollten, so hatte sein Folterer gesagt, alle Erinnerungen aus seinem Verstand tilgen; sie brauchten eine völlig leere Tafel, auf die sie ihre radikale Sicht der Zukunft, die ihnen allen bevorstand, schreiben konnten. Sie ließen ihn zu seinem eigenen Besten zur Ader, behauptete sein lächelnder Folterer, um ihn von den Giftstoffen der Vergangenheit zu reinigen. Jeden Tag las er Chan aus ihrem Manifest vor und zählte danach die Namen der Gegner ihres Rebellenregimes auf, die hingerichtet worden waren. Die meisten kannte Chan natürlich nicht, aber einige — vor allem Mönche sowie ein paar Jungen in seinem Alter — hatte er flüchtig gekannt. Manche dieser Jungen hatten ihn gehänselt und ihm den Mantel des Ausgestoßenen um seine jugendlichen Schultern gehängt. Nach einiger Zeit wurde ein zusätzlicher Punkt auf die Tagesordnung gesetzt: Hatte der Folterer einen bestimmten Abschnitt des Manifests vorgelesen, musste Chan ihn auswendig hersagen. Das tat er mit immer überzeugenderer Stimmge-walt.

Eines Tages las sein Folterer ihm nach der obligaten Rezitation und Chans Wiederholung die Namen derer vor, die kürzlich zur Beförderung der Revolution liquidiert worden waren. Am Schluss der Liste stand Richard Wick, der Missionar, der Chan bei sich aufgenommen hatte, um den Jungen zur Zivilisation und zu Gott zu führen. Welchen Gefühlsaufruhr diese Nachricht bei Chan bewirkte, ließ sich unmöglich schildern, aber die beherrschende Empfindung war ein Gefühl der Verlassenheit. Damit war seine letzte Verbindung zur Außenwelt abgerissen. Nun war er endgültig und völlig allein. In der relativen Abgeschiedenheit der Latrine weinte er, ohne recht zu wissen, warum. Wenn er jemals einen Menschen gehasst hatte, dann war es dieser Mann gewesen, der ihn benützt und emotional im Stich gelassen hatte, und nun beweinte er unerklärlicherweise dessen Tod.

Später an diesem Tag führte sein Folterer ihn aus dem Betonbunker, in dem er seit seiner Gefangennahme festgehalten worden war. Obwohl es aus bleigrauem Himmel stark regnete, blinzelte Chan ins Tageslicht. Das Rad der Zeit hatte sich weitergedreht; die Monsunperiode hatte begonnen.

Im Treppenhaus liegend erkannte Chan jetzt, dass er als Heranwachsender nie über sein eigenes Leben hatte bestimmen können. Das wirklich Eigenartige und Beunruhigende war, dass er das noch immer nicht konnte. Er hatte sich eingebildet, sein eigener Herr zu sein, nachdem er sich große Mühe gegeben hatte, sich in einer Branche zu etablieren, in der man seiner — freilich naiven- Ansicht nach frei und ungebunden agieren konnte.

Wollte er sich jemals von den Ketten befreien, die ihn fesselten, würde er etwas wegen Stepan Spalko unternehmen müssen. Chan wusste, dass er gegen Ende ihres letzten Telefongesprächs unverschämt zu ihm gewesen war, und er bedauerte das jetzt. Mit diesem für ihn so untypischen Wutausbruch hatte er nichts anderes erreicht, als Spalko misstrauisch und wachsam zu machen. Andererseits, das erkannte er nur allzu deutlich, war es mit seiner eiskalten Zurückhaltung vorbei, seit Bourne sich in der Old Town von Alexandria neben ihn auf eine Parkbank gesetzt hatte. Jetzt stiegen Emotionen, die er weder benennen noch verstehen konnte, in ihm an die Oberfläche, wühlten sein Bewusstsein auf und trübten seine Gedanken. Erschrocken wurde ihm klar, dass er in Bezug auf Jason Bourne nicht mehr genau wusste, was er wollte.

Chan setzte sich auf, sah sich um. Er hatte ein Geräusch gehört, das wusste er genau. Er stand auf, legte ei-ne Hand aufs Treppengeländer, spannte fluchtbereit alle Muskeln an. Und dann kam es wieder. Er wandte den Kopf zur Seite. Was war dieses Geräusch? Wo hatte er das schon einmal gehört?

Sein Herz jagte und schlug ihm bis zum Hals, als dieser Ruf im Treppenhaus aufsteigend in seinem Gehirn echote, und nun rief auch er: »Li-Li! Li-Li!«

Aber Li-Li konnte nicht antworten. Li-Li war tot.

Kapitel neunzehn

Der unterirdische Zugang zum Kloster lag im Schatten der tiefsten Spalte in der Nordwand der Schlucht verborgen. Die tiefer stehende Sonne hatte enthüllt, dass die Spalte eher ein Engpass war — wie schon vor vielen Jahrhunderten, als die Mönche diesen Ort für ihr wehrhaftes Kloster ausgewählt hatten. Vielleicht waren sie kampferprobte Mönche gewesen, denn die ausgedehnten Befestigungsanlagen kündeten von Kämpfen und Blutvergießen und der Notwendigkeit, das Kloster gegen äußere Feinde zu verteidigen.

Das Team bewegte sich, der Sonne folgend, schweigend durch den Engpass. Zwischen Spalko und Sina gab es jetzt kein intimes Gespräch mehr, nicht den geringsten Hinweis darauf, was zwischen ihnen vorgefallen war, obwohl es ungeheuer bedeutsam gewesen war. In gewisser Beziehung hätte man von einem heiligen Segen sprechen können; jedenfalls war damit ein Transfer von Loyalität und Macht verbunden gewesen, den Schweigen und Geheimhaltung jetzt noch wirkungsvoller machten. Es war wieder Spalko gewesen, der einen metaphorischen Kiesel in einen stillen Teich geworfen und sich dann zurückgelehnt hatte, um zu beobachten, wie die kleinen Wellen sich ringförmig ausbreiteten und die grundlegende Natur des Teichs und aller seiner Bewohner veränderten.

Die von der Sonne angestrahlten Felsen blieben hinter ihnen zurück, als sie in den Schatten eintraten und ihre Stablampen einschalteten. Spalko und Sina wurden von zwei Männern begleitet — der dritte Mann lag, von dem Chirurgen betreut, in Spalkos Privatjet auf dem Flughafen Kazantzakis. Sie trugen leichte Nylonrucksäcke mit allen möglichen Ausrüstungsgegenständen von Tränengaskanistern bis zu Zwirnspulen. Da Spalko nicht wusste, was sie erwartete, hatte er für alle Eventualitäten vorgesorgt.