Sie fuhr mit den Fingern zärtlich über sein von einer dünnen Narbenschicht überzogenes Fleisch.»So gefällst du mir, unvollkommen. Der Schmerz, den du erlitten hast, macht dich… heldenhaft.«
Spalko sagte nichts und hörte Sina dann gleichmäßig tief atmen, als sie einschlief. Natürlich war kein Wort von seiner Geschichte wahr gewesen, obwohl er zugeben musste, dass diese Story gut war — filmisch sehr wirkungsvoll. Die Wahrheit. was war die Wahrheit? Er kannte sie kaum noch; er hatte so viel Zeit darauf verwandt, seine kunstvolle Fassade zu errichten, dass er sich an manchen Tagen in der eigenen Scheinwelt verirrte. Jedenfalls hätte er niemandem die Wahrheit erzählt, weil das für ihn nachteilig gewesen wäre. Leute, die einen kannten, glaubten, einen zu besitzen, als ob die Wahrheit, die man in einem schwachen Augenblick, den sie Intimität nannten, einen an sie binden könnte.
In dieser Beziehung war Sina wie alle anderen, und er hatte den bitteren Geschmack von Enttäuschung im Mund. Andererseits enttäuschten andere Menschen ihn ständig. Sie spielten nicht in seiner Liga; sie konnten die Feinheiten des Weltgeschehens nicht wie er begreifen.
Sie waren eine Zeit lang amüsant, aber eben nur für gewisse Zeit. Diesen Gedanken nahm er mit in den bo-denlosen Abgrund seines tiefen, traumlosen Schlafs hinunter, und als er aufwachte, war Sina fort, an die Seite des ahnungslosen Hassan Arsenow zurückgekehrt.
Bei Tagesanbruch stiegen die fünf in zwei Range Rover, die von Mitgliedern des Humanistas-Teams ausgerüstet worden waren und gelenkt wurden, und fuhren nach Süden aus der Stadt auf den von Pöbel bewohnten Slum zu, der wie ein Krebsgeschwür an der Flanke Nairobis wucherte. Keiner sagte ein Wort, und sie hatten nur leicht gefrühstückt, weil sie alle — sogar Spalko — im Bann ungeheurer Anspannung standen.
Obwohl der Morgen klar war, hing über dem weitläufigen Slumgebiet ein Gifthauch, der vom Fehlen jeglicher Kanalisation zeugte und das stets drohende Gespenst der Cholera heraufbeschwor. Die Bewohner hausten in wackeligen Unterkünften, windschiefen Hütten aus Pappe und Wellblech, einigen Holzhütten und quadratischen Betonbauten, die man für Bunker hätte halten können, wären die draußen im Zickzack gespannten Leinen nicht gewesen, an denen Wäsche in der staubigen Luft flatterte. Dazwischen immer wieder von Planierraupen aufgetürmte Erdhügel, frisch und rätselhaft, bis die Vorbeifahrenden die angesengten und verkohlten Überreste von ausgebrannten Hütten, Schuhe mit weggebrannten Sohlen oder Fetzen eines blauen Kleides sahen.
Diese wenigen Artefakte, Zeugen jüngster Geschichte- nur sie existierte hier —, ließen die Hässlichkeit bitterster Armut noch fürchterlicher erscheinen. Falls man hier ein Leben führen konnte, war es unbeständiger, chaotischer und trister, als man mit Gedanken oder Worten ausdrücken konnte. Alle wurden von dem Gefühl erfasst, hier herrsche selbst im Licht des neuen Morgens endlose Nacht. Das weitläufige Elendsviertel stand irgendwie unter einem ungünstigen Stern, der sie an den Basar erinnerte, als sei die Schwarzmarktwirtschaft in der Stadt auf obskure Weise an der deprimierenden Landschaft schuld, durch die sie krochen, wobei sie von den Menschenmassen behindert wurden, die sich auf den rissigen Gehsteigen drängten und auf die unbefestigten, mit Schlaglöchern übersäten Straßen auswichen. Verkehrsampeln gab es keine, und selbst wenn es hier welche gegeben hätte, wären die Fahrzeuge immer wieder von stinkenden Bettlerhorden oder Straßenhändlern, die ihre kümmerlichen Waren anpriesen, angehalten worden.
Schließlich erreichten sie ungefähr die Mitte des Slums und verschwanden dort in einem ausgebrannten einstöckigen Gebäude, in dem es nach Rauch stank. Drinnen lag überall Asche, weiß und weich wie Knochenmehl. Die Fahrer brachten die Ladung herein, die sie in zwei rechteckigen Behältern von der Größe von Schrankkoffern transportiert hatten.
Die Behälter enthielten ABC-Schutzanzüge aus silbrig beschichtetem Material, die sie unter Spalkos Anleitung anlegten. Zu jedem dieser Anzüge gehörte ein eigenes Atemschutzgerät. Dann nahm Spalko das NX 20 aus seinem Koffer in einem der Behälter und setzte die beiden Teile sorgfältig zusammen, während die vier tschetschenischen Rebellen sich um ihn drängten, um zuzusehen. Er ließ Hassan Arsenow einen Augenblick das Gerät halten und zog den kleinen schweren Metallbehälter, den Dr. Peter Sido ihm gegeben hatte, aus der Tasche. Spalko öffnete ihn sehr vorsichtig. Sie starrten alle die Glasphiole an. So klein, aber doch so tödlich. Ihre Atmung verlangsamte sich, wurde keuchend, als fürchteten sie alle, den Tod einzuatmen.
Spalko wies Arsenow an, ihm das NX 20 mit leicht gebeugten Armen hinzuhalten. Er bewegte den oben angeordneten Titanschieber und legte die Phiole in die Ladekammer. Trotzdem lasse das NX 20 sich noch nicht abfeuern, erklärte er den anderen. Dr. Schiffer hatte mehrere Sicherungen gegen versehentliches oder vorzeitiges Versprühen eingebaut. Spalko wies auf den luftdichten Verschluss hin, der nach dem Laden entstand, wenn er den Schieber zurückzog und verriegelte. Das tat er jetzt; dann nahm er Arsenow das NX 20 aus den Händen und führte die kleine Gruppe in dem ausgebrannten Gebäude eine Treppe hinauf, die nur noch stand, weil sie aus Stahlbeton war.
Im ersten Stock drängten sie sich an einem Fenster zusammen. Auch seine Scheiben waren zersprungen, nur der Rahmen war noch übrig. Von dieser Warte aus beobachteten sie die Hinkenden und die Lahmen, die Verhungernden, die Kranken. Fliegen summten, ein drei-beiniger Hund hockte sich hin und kackte zwischen die Gebrauchtwaren, die auf einem Markt unter freiem Himmel angeboten wurden. Ein nacktes Kind lief weinend durch die Straßen. Eine vorbeischlurfende alte Frau räusperte sich umständlich und spuckte aus.
Diese Bilder interessierten die kleine Gruppe jedoch nur am Rande. Die vier beobachteten jede Bewegung Spalkos, nahmen mit fast zwanghafter Konzentration jedes seiner Worte in sich auf. Die fast mathematische Präzision der Waffe wirkte wie ein Gegenzauber zur Abwehr der Krankheiten, die hier in der Luft zu liegen schienen.
Spalko zeigte ihnen die beiden Abzughebel des NX 20, von denen der kleinere unmittelbar vor dem größeren Abzug angeordnet war. Mit dem kleinen Hebel, erklärte er ihnen, wurde die Phiole aus der Ladekammer in die Feuerkammer befördert. Sobald auch sie versiegelt war, wozu man diesen Knopf hier auf der linken Seite der Waffe drücken musste, war das NX 20 schussbereit. Er betätigte den kleinen Abzug, drückte dann den Knopf und konnte im Inneren der Waffe eine leichte Bewegung, eine erste Regung des nahenden Todes spüren.
Die Mündung des Geräts war stumpf und hässlich, aber ihre Stumpfheit hatte auch einen praktischen Zweck. Im Gegensatz zu herkömmlichen Waffen musste man mit dem NX 20 nicht genau zielen, erläuterte Spal-ko. Er schob die Mündung aus dem Fenster. Alle fünf hielten den Atem an, als sein Finger sich um den großen Abzug krümmte.
Draußen ging das Leben seinen ungeordneten Gang. Ein junger Mann hielt sich einen Blechnapf mit Maisbrei unters Kinn und schaufelte das Zeug mit zwei Fingern der rechten Hand in seinen Mund, während eine Gruppe von halb verhungerten Menschen ihn mit unnatürlich großen Augen beobachtete. Ein unglaublich dünnes Mädchen fuhr auf einem Fahrrad vorbei, und zwei zahnlose alte Männer starrten auf die fest getrampelte Erde der Straße, als läsen sie dort die traurige Geschichte ihres Lebens.
Zu hören war nur ein leises Zischen, zumindest klang es in ihren sicheren ABC-Schutzanzügen so. Ansonsten war kein äußeres Anzeichen für den Sprühvorgang zu erkennen. Genau das hatte Dr. Schiffer vorhergesagt.
Während die Sekunden qualvoll langsam verstrichen, beobachtete die Gruppe gespannt das Leben vor dem
Fenster. Alle Sinneswahrnehmungen schienen unnatürlich gesteigert zu sein. Sie hörten ihren Puls als sonores Pochen in den Ohren, spürten das schwere Schlagen ihrer Herzen. Sie merkten, dass sie unwillkürlich den Atem anhielten.