Dr. Schiffer hatte gesagt, sie würden binnen drei Minuten die ersten Anzeichen dafür sehen, dass das NX 20 richtig funktioniert hatte. Das waren mehr oder weniger seine letzten Worte gewesen, bevor Spalko und Sina seinen fast leblosen Körper ins Labyrinth geworfen hatten.
Spalko hatte verfolgt, wie der Sekundenzeiger seiner Uhr sich der Dreiminutenmarke näherte, und sah jetzt auf. Von dem Anblick, der sich ihm bot, war er wie gebannt. Ein Dutzend Menschen waren zusammengeklappt, bevor der erste heulende Schrei ertönte. Er verstummte rasch, aber andere nahmen die Wehklage auf, nur um auf der Straße zusammenzubrechen und sich am Boden zu winden. Chaos und Schweigen, während der Tod in immer weiterem Umkreis immer reichere Ernte hielt. Man konnte sich nicht vor ihm verstecken, und niemand entging ihm — auch die nicht, die wegzurennen versuchten.
Spalko machte den Tschetschenen ein Zeichen, und die vier folgten ihm die Betontreppe hinunter. Die Fahrer — auch sie in ABC-Schutzanzügen — hielten sich bereit, während Spalko das NX 20 zerlegte. Sobald es wieder in seinem Koffer verstaut war, ließen sie die Schlösser zuschnappen und brachten die Behälter zu den wartenden Geländewagen hinaus.
Die fünf machten einen Rundgang über die Straße und einige Nachbarstraßen. Sie gingen nach allen Richtungen vier Straßenblocks weit, sahen überall dasselbe
Ergebnis: Tote und Sterbende, noch mehr Tote und Sterbende. Sie hatten den Geschmack des Triumphs im Mund, als sie zu ihren Fahrzeugen zurückkehrten. Die Motoren der Range Rover sprangen an, sobald sie eingestiegen waren, und dann fuhren sie kreuz und quer durch das gesamte Gebiet mit einer halben Meile Radius, das nach Dr. Schiffers Aussage der Reichweite des NX 20 entsprach. Spalko stellte befriedigt fest, dass der gute Doktor weder gelogen noch übertrieben hatte.
Wie viele Menschen werden tot sein oder im Sterben liegen, wenn die Nutzlast nach etwa einer Stunde aufgebraucht ist? fragte er sich. Bei tausend hatte er zu zählen aufgehört, aber er rechnete mit dreimal, vielleicht sogar fünfmal so vielen Opfern.
Bevor sie die Totenstadt verließen, erteilte Spalko einen weiteren Befehl, und seine Fahrer legten Brände, wobei sie wirksame Brandbeschleuniger benützten. Sofort stiegen hohe Flammenwände zum Himmel auf, die sich rasch ausbreiteten.
Der Großbrand war ein erfreulicher Anblick. Er würde tarnen, was heute Morgen hier passiert war, denn davon durfte niemand erfahren — wenigstens nicht, bevor ihr Attentat auf das Gipfeltreffen in Reykjavik durchgeführt war.
In nur achtundvierzig Stunden ist’s so weit, dachte Spalko triumphierend. Nichts kann uns mehr aufhalten.
Jetzt ist die Welt mein.
Kapitel einundzwanzig
«Ich fürchte, dass du innere Blutungen hast«, sagte Annaka, während sie nochmals die stark verfärbte Prellung an Bournes Seite begutachtete.»Wir müssen dich ins Krankenhaus schaffen.«
«Soll das ein Witz sein?«, fragte er. Tatsächlich waren die Schmerzen viel schlimmer geworden, sodass er bei jedem Atemholen das Gefühl hatte, mehrere Rippen seien zersplittert. Aber eine Behandlung im Krankenhaus kam nicht in Frage; schließlich wurde nach ihm gefahndet.
«Also gut«, räumte Annaka ein,»dann zu einem Arzt. «Sie hob eine Hand, um seine Einwände abzuwehren.»Istvan, der Freund meines Vaters, ist unbedingt diskret. Mein Vater hat ihn schon mehrmals hinzugezogen, auf Istvan war immer Verlass.«
Bourne schüttelte den Kopf.»Geh in die Apotheke, wenn’s sein muss — nicht mehr.«
Bevor er sich die Sache anders überlegen konnte, griff Annaka nach Mantel und Umhängetasche und versprach, so schnell wie möglich zurückzukommen.
In gewisser Beziehung war er froh, sie für eine Weile los zu sein, denn er musste mit seinen Gedanken allein sein. Auf dem Sofa zusammengerollt liegend, zog er die Steppdecke enger um sich. Sein Kopf schien in Flammen zu stehen. Seiner Überzeugung nach war Dr. Schiffer der Schlüssel zu allem. Er musste ihn aufspüren, denn sobald er das getan hatte, würde sich herausstellen, wer Alex und
Mo hatte ermorden lassen. Der Betreffende hatte auch versucht, ihm den Doppelmord anzuhängen. Das Problem war nur, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Schiffer war nun schon längere Zeit verschwunden. Molnar war seit zwei Tagen tot. Hatte er Schiffers Aufenthaltsort unter der Folter verraten, wie zu befürchten war, musste Bourne annehmen, Schiffer befinde sich jetzt in der Hand des Feindes — was zugleich bedeutete, dass der Feind auch besaß, was Schiffer anscheinend erfunden hatte: irgendeine Art biologischer Waffe mit dem Kodenamen NX 20, auf den Leonard Fine, Conklins Verbindungsmann, so stark reagiert hatte, als Bourne ihn erwähnt hatte.
Wer war der Feind? Der einzige Name, den er hatte, war der von Stepan Spalko, einem international bekannten Helfer der Menschheit. Und trotzdem war Spalko nach Chans Aussage die graue Eminenz in diesem tödlichen Spiel. Chan konnte natürlich lügen — und warum auch nicht? Wenn er eigene Gründe hatte, sich an Spalko zu rächen, würde er sie Bourne kaum mitteilen.
Chan!
Allein der Gedanke an ihn bewirkte, dass Bourne von unerwünschten Emotionen überflutet wurde. Mit einiger Anstrengung gelang es ihm, seinen Zorn auf die beteiligten staatlichen Stellen zu konzentrieren. Sie hatten ihn belogen, an einem gemeinsamen Täuschungsmanöver mitgewirkt, um zu verhindern, dass er die Wahrheit entdeckte. Warum? Was wollten sie verbergen? Glaubten sie, dass Joshua noch lebte? Und wieso sollte er dann nichts davon erfahren? Was bezweckten sie damit? Er hielt sich den Kopf mit beiden Händen. Sein Blick schien die richtige Perspektive verloren zu haben: Dinge, die vor kurzem noch ganz nahe gewesen waren, schienen in weite Ferne gerückt, sodass Bourne fürchtete, er könnte den Verstand verlieren.
Mit einem unverständlichen Aufschrei schlug er die Steppdecke zurück, stand auf, ohne auf die stechenden Schmerzen in seiner Seite zu achten, und ging zu seiner Jacke, unter der er die Keramikpistole versteckt hatte. Er nahm sie in die Hand. Im Gegensatz zu einer stählernen Waffe mit ihrem beruhigenden Gewicht war sie federleicht. Bourne hielt den Griff umklammert, steckte seinen Zeigefinger durch den Abzugbügel. Er starrte die Pistole lange an, als könne er sie durch bloße Willensanstrengung dazu zwingen, die tief in der Militärbürokratie versteckten Personen heraufzubeschwören, die beschlossen hatten, ihm zu verschweigen, dass Joshuas Leiche nie gefunden worden war, weil es viel einfacher gewesen war, ihn für tot zu erklären, als eingestehen zu müssen, dass sie nicht sicher wussten, ob er tot oder lebendig war.
Die Schmerzen kamen allmählich wieder, und er litt bei jedem Atemzug solche Qualen, dass er aufs Sofa zurückkehren musste, wo er sich wieder in die Steppdecke wickelte. Und in der Stille des Apartments tauchte wieder ein quälender Gedanke auf: Was war, wenn Chan die Wahrheit sagte — wenn er wirklich Joshua war? Und die Antwort, entsetzlich und unausweichlich: Dann war er ein Berufskiller, ein brutaler Mörder ohne Reue oder Schuldgefühl, bar aller menschlichen Gefühlsregungen.
Plötzlich ließ Jason Bourne den Kopf hängen, war den Tränen so nahe wie lange nicht mehr, seit Alex Conklin ihn vor Jahrzehnten angeworben hatte.
Als Kevin McColl den Auftrag erhielt, Bourne zu liquidieren, lag er auf Ilona, einer mit ihm befreundeten Ungarin, die so hemmungslos wie sportlich war. Sie konnte wundervolle Dinge mit ihren Beinen tun — und tat sie auch gerade, als der Anruf kam.
Wie es der Zufall wollte, war er in den Kiraly-Bädern in der Fo utca. Da heute Samstag, Frauentag, war, hatte Ilona ihn hineinschmuggeln müssen, was alles nur noch aufregender machte, wie McColl zugeben musste. Wie jeder andere in seiner Position hatte er sich sehr rasch daran gewöhnt, außerhalb des Gesetzes zu stehen oder besser — das Gesetz zu sein.
Frustriert grunzend löste er sich aus ihrer Umschlingung und griff nach seinem Handy. Einen Anruf der Agency, der unter dieser speziellen Nummer einging, durfte man niemals ignorieren. Er hörte sich einsilbig an, was der Direktor am anderen Ende zu sagen hatte. Er würde jetzt gehen müssen. Der Auftrag war dringend, die Zielperson in Reichweite.