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Diese Lüge war ihr leicht über die Lippen gekommen. Sie klang nicht nur wahr, weil Annaka lebenslange Übung als Lügnerin hatte, sondern weil das bis zu ihrem letzten Telefongespräch mit Spalko die Wahrheit gewesen war. Spalkos Pläne hatten sich geändert, und nachdem sie nun Zeit gehabt hatte, über diese Sache nachzudenken, passte es zu ihrem neuen Auftrag, Chan das mitzuteilen. Vielleicht war es sogar günstig, dass er ihr hier aufgelauert hatte — aber nur wenn sie’s schaffte, diese Begegnung lebend zu überstehen.

«Wo ist Spalko jetzt?«, wollte er wissen.»Hier in Budapest?«

«Er ist auf dem Rückflug aus Nairobi.«

Chan war überrascht.»Was hat er in Nairobi gemacht?«

Sie lachte, aber da seine Finger ihr weiter schmerzhaft den Hals zudrückten, klang das mehr wie ein trockenes Röcheln.»Glaubst du wirklich, dass er mir das erzählen würde? Du weißt doch, wie geheimnistuerisch er ist.«

Er legte seine Lippen an ihr Ohr.»Ich weiß, wie geheimnistuerisch wir waren, Annaka — nur sind unsere Geheimnisse ausgeplaudert worden, stimmt’s?«

Ihre Augen suchten seine im Rückspiegel.»Ich habe ihm nicht alles erzählt. «Wie eigenartig es war, ihn nicht direkt ansehen zu können.»Manche Dinge habe ich für mich behalten.«

Chans Lippen kräuselten sich verächtlich.»Du erwartest doch wohl nicht, dass ich das glaube?«

«Du kannst glauben, was du willst«, sagte sie ausdruckslos,»wie du’s immer getan hast.«

Er schüttelte sie wieder.»Was soll das heißen?«

Sie keuchte, biss sich auf die Unterlippe.»Wie sehr ich meinen Vater gehasst habe, ist mir erst klar geworden, als ich mit dir zusammen war. «Er lockerte seinen Griff, und sie schluckte krampfhaft.»Durch deine unbeirrbare Feindschaft gegenüber deinem Vater ist mir ein Licht aufgegangen; du hast mir gezeigt, wie man den rechten Augenblick abwartet, wie man den Gedanken an Rache genießt. Und du hast Recht: Als er erschossen wurde, war ich bitter enttäuscht, weil ich’s nicht selbst getan hatte.«

Obwohl er sich nichts anmerken ließ, schockierte ihn, was sie sagte. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht geahnt, dass er so viel von sich preisgegeben hatte. Er war beschämt und nahm es ihr übel, dass sie ohne sein Wissen so viel über ihn hatte in Erfahrung bringen können.

«Wir waren ein Jahr lang zusammen«, sagte er,»für Leute wie uns ist das ein Leben.«

«Dreizehn Monate, einundzwanzig Tage und sechs Stunden«, sagte sie.»Ich erinnere mich genau an den Augenblick, in dem ich dich verlassen habe, weil mir plötzlich klar wurde, dass ich dich nicht so kontrollieren konnte, wie Stepan es verlangt hat.«

«Und was war daran schuld?«Seine Stimme klang beiläufig, obwohl ihn das brennend interessierte.

Ihr Blick suchte erneut seinen und ließ ihn nicht mehr los.»Weil«, sagte sie,»ich mich nicht unter Kontrolle hatte, wenn ich mit dir zusammen war.«

Sagte sie die Wahrheit, oder versuchte sie nur wieder, ihn hinters Licht zu führen? Chan, der in jeder Beziehung so selbstsicher gewesen war, bevor Jason Bourne in sein Leben zurückgekehrt war, wusste es nicht. Er empfand wieder Scham und Ressentiments, sogar etwas Angst, weil seine scharfe Beobachtungsgabe und sein unfehlbarer Instinkt ihn im Stich ließen. Trotz seiner Abwehrversuche waren wieder Gefühle im Spiel, breiteten sich wie giftiger Nebel über seinen Verstand aus, trübten sein Urteilsvermögen und ließen ihn in unbekannten Gewässern in eine Flaute geraten. Er fühlte sein Begehren nach ihr stärker werden als je zuvor. Er begehrte sie so sehr, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte, seine Lippen auf die köstlich duftende Haut ihres Nackens zu drücken.

Und weil er das tat, nahm er den Schatten nicht wahr, der plötzlich ins Innere des Skoda fieclass="underline" ein Schatten, den Annaka bemerkte, als sie jetzt ihre Blickrichtung änderte, sodass sie den hünenhaften Amerikaner sah, der die hintere Tür aufriss und den Griff seines Revolvers auf Chans Hinterkopf krachen ließ.

Chans Griff lockerte sich, seine Hände sanken herab, als er bewusstlos auf dem Rücksitz zusammensackte.

«Hallo, Frau Vadas«, sagte der Amerikaner in perfektem Ungarisch. Er lächelte, während seine linke Pranke ihre Pistole einsammelte.»Mein Name ist McColl, aber mir wär’s lieber, wenn Sie mich Kevin nennen würden.«

Sina träumte von einem orangeroten Himmel, unter dem eine gewaltige Horde moderner Krieger — ein Heer von mit NX 20 ausgerüsteten Tschetschenen — aus dem Kaukasus kommend in die Steppen Russlands einfiel, um Tod und Verderben in die Reihen ihres alten Feindes zu tragen. Aber Spalkos Experiment war so beeindruckend gewesen, dass es in ihrem Fall die zeitlichen Barrieren aufgehoben hatte. Sie war wieder ein Kind, befand sich wieder in der elenden Behausung ihrer Eltern in einem von Granaten beschädigten Gebäude, hörte die versagende Stimme ihrer vorzeitig gealterten Mutter: »Ich kann nicht aufstehen. Nicht einmal, um Wasser zu holen. Ich kann nicht mehr.«

Aber jemand musste weitermachen. Sina war damals fünfzehn, das älteste der vier Kinder. Als der Schwiegervater ihrer Mutter kam, nahm er nur ihren Bruder Kanti mit, den männlichen Erben des Klans; alle anderen — auch seine Söhne — hatten die Russen erschossen oder in die berüchtigten Lager Pobedinskoje und Krasnaja Turbina deportiert.

Danach übernahm sie die Aufgaben ihrer Mutter, sammelte Altmetall, um es zu verkaufen, und holte Wasser. Aber obwohl sie todmüde war, konnte sie nachts nicht schlafen, weil sie immer Kantis tränenüberströmtes Gesicht vor sich sah, sein Entsetzen darüber spürte, dass er seine Angehörigen verlassen musste und aus seinem bisherigen Leben gerissen wurde.

Wöchentlich dreimal machte sie sich auf den Weg über vermintes Gelände, um Kanti zu besuchen, seine blassen Wangen zu küssen und ihm von Vater und Geschwistern zu erzählen. Eines Tages fand sie ihren Großvater tot auf. Die russischen Sondertruppen waren bei einer Säuberungsaktion vorbeigekommen, hatten ihren Großvater erschossen und ihren Bruder nach Krasnaja Turbina abtransportiert.

Im folgenden halben Jahr hatte Sina versucht, Nachricht von Kanti zu bekommen, aber sie war jung und hatte keine Erfahrung mit solchen Dingen. Außerdem fand sie ohne Geld niemanden, der zu Auskünften bereit gewesen wäre. Drei Jahre nach dem Tod ihrer Mutter — ihre Schwestern waren inzwischen bei Pflegeeltern — schloss sie sich den Aufständischen an. Damit hatte sie sich kein leichtes Los erwählt: Sie musste Einschüchterung durch Männer ertragen; sie musste lernen, schwach und unterwürfig zu wirken, ihre Kräfte zu schonen und gezielt einzusetzen. Aber dank ihrer überdurchschnittlichen Intelligenz eignete sie sich die nötigen Fertigkeiten rasch an. Sie diente ihr auch als Sprungbrett, als es darum ging, die Mechanismen des Machtspiels zu verstehen. Im Gegensatz zu Männern, die den Aufstieg in der Rebellenhierarchie durch Einschüchterung schafften, war sie gezwungen, dazu ihre körperlichen Reize einzusetzen. Nachdem sie ein Jahr lang einen Führungsoffizier nach dem anderen erduldet hatte, gelang es ihr endlich, einen nächtlichen Überfall auf Krasnaja Turbina zu organisieren.

Das war der einzige Grund, weswegen sie sich den Aufständischen angeschlossen hatte und durch eine Hölle auf Erden gegangen war, aber sie fürchtete sich davor, was sie dort vielleicht entdecken würde. Und trotzdem fand sie nichts, nicht den geringsten Hinweis auf das Schicksal ihres Bruders. Kanti war einfach spurlos verschwunden.

Sina schrak keuchend hoch. Sie setzte sich auf, sah sich um und erkannte, dass sie in Spalkos Privatjet auf dem Flug nach Island war. In Gedanken, die noch halb im Traum befangen waren, sah sie Kantis tränenüberströmtes Gesicht, roch den scharfen Laugengeruch aus den Massengräbern in Krasnaja Turbina. Sie ließ betrübt den Kopf hängen. Es war die Ungewissheit, die an ihr nagte. Hätte sie gewusst, dass er tot war, hätte sie ihre Schuldgefühle vielleicht überwinden können. Aber falls er wie durch ein Wunder überlebt hatte, würde sie’s nie erfahren, sie konnte ihn nicht retten und ihn vor den Schrecken des russischen Lagers bewahren.