Istvan Ambrus, Janos Vadas’ alter Bekannter, betete in der Synagoge, aber er reagierte durchaus freundlich, als Annaka hineinging und ihm flüsternd von dem Notfall erzählte.
«Natürlich helfe ich Ihnen gern, soweit ich kann, Annaka«, sagte er, als aufstand und mit ihr durch den mit prächtigen Kronleuchtern geschmückten Innenraum ging. Hinter ihnen ragte die gewaltige Orgel mit fünftausend Pfeifen auf — ein für jüdische Gotteshäuser höchst ungewöhnliches Instrument, auf dem schon so berühmte Komponisten wie Franz Liszt und Camille Saint-Saens gespielt hatten.
«Der Tod Ihres Vaters hat uns alle schwer getroffen. «Ambrus nahm ihre Hand, drückte sie kurz. Er hatte die breiten, kräftigen Finger eines Chirurgen… oder eines Maurers.»Wie kommen Sie damit zurecht, meine Liebe?«
«Einigermaßen«, sagte sie leise und ging ins Freie voraus.
Bourne saß auf dem Hof, unter dessen Erde die sterblichen Überreste von fünftausend Juden lagen, die in dem strengen Winter 1944–1945 umgekommen waren, als Adolf Eichmann die Synagoge in einen Sammelplatz verwandelt hatte, von dem aus er die zehnfache Anzahl in Vernichtungslager geschickt hatte. Der Hof zwischen den Bogengängen der inneren Loggia war mit hellen Gedenksteinen angefüllt, zwischen denen dunkelgrüner Efeu rankte. Auch die Stämme der hier gepflanzten Bäume waren von Efeu umrankt. Ein kalter Wind ließ das Laub rascheln: ein Geräusch, das man an diesem Ort für fernes Stimmengemurmel hätte halten können.
Es war schwierig, hier zu sitzen und nicht an die Toten und das schreckliche Leid in jener dunklen Zeit zu denken. Bourne fragte sich, ob jetzt wieder eine dunkle Zeit heraufzog. Er blickte aus seinen trübseligen Gedanken auf und sah Annaka in Begleitung eines eleganten kleinen Mannes mit rundem Gesicht, schmalem Schnurrbart und rosigen Wangen zurückkommen. Er trug einen braunen Dreiteiler, und die Schuhe an seinen kleinen Füßen waren auf Hochglanz poliert.
«Sie sind also der Unglücksrabe«, sagte er, nachdem Annaka sie bekannt gemacht und ihm versichert hatte, Bourne spreche Ungarisch.»Nein, nein, nicht aufstehen«, wehrte er ab, als er sich neben ihn setzte und mit der Untersuchung begann.»Hmmm, Annaka hat die Schwere Ihrer Verletzungen untertrieben, fürchte ich. Sie sehen aus wie durch einen Fleischwolf gedreht.«
«Genauso fühle ich mich auch, Doktor. «Er zuckte unwillkürlich zusammen, als Ambras’ Finger eine besonders schmerzhafte Stelle abtasteten.
«Als ich auf den Hof gekommen bin, habe ich Sie tief in Gedanken gesehen«, sagte der Arzt im Plauderton.»In gewisser Weise ist dies ein Schreckensort, dieser Hof, der uns an die erinnert, die wir verloren haben — und daran, was die gesamte Menschheit durch den Holocaust verloren hat. «Seine Finger waren überraschend zart und beweglich, als sie über Bournes empfindliche Körperhälfte glitten.»Aber die damalige Zeit war nicht nur schlimm, wissen Sie. Kurz bevor Eichmann und sein Stab einmarschierten, halfen mehrere Geistliche dem Rabbi, siebenundzwanzig Thorarollen aus dem Thoraschrein der Synagoge zu bergen. Sie nahmen sie mit, diese Priester, und vergruben sie auf einem christlichen Friedhof, wo sie bis Kriegsende vor den Nazis sicher waren. «Er lächelte schwach.»Was lernen wir daraus? Selbst ins tiefste Dunkel kann ein Lichtstrahl fallen. Auch von unerwarteter Seite kann uns Mitleid entgegengebracht werden. Und Sie haben zwei gebrochene Rippen.«
Er stand auf.»Kommen Sie, wir fahren zu mir nach Hause, damit ich Sie richtig verbinden kann. In ungefähr einer Woche lassen die Schmerzen nach, und dann sind Sie bald wieder gesund. «Er hob mahnend einen dicken Zeigefinger.»Aber bis dahin müssen Sie mir versprechen, sich zu schonen. Keine großen körperlichen Anstrengungen. Am besten überhaupt keine Anstrengungen.«
«Das kann ich Ihnen nicht versprechen, Doktor.«
Dr. Ambrus seufzte, während er rasch zu Annaka hinübersah.»Wieso überrascht mich das eigentlich nicht?«
Bourne stand ebenfalls auf.»Tut mir Leid, aber ich rechne damit, alles tun zu müssen, was Sie mir gerade verboten haben. Deshalb möchte ich Sie bitten, alles zu tun, was die beschädigten Rippen schützen kann.«
«Wie wär’s mit einer Ritterrüstung?«Ambrus schmunzelte über seinen eigenen Scherz, wurde aber sofort wieder ernst, als er Bournes Gesichtsausdruck sah.»Großer Gott, Mann, mit wem müssen Sie’s aufnehmen?«
«Wenn ich das wüsste«, sagte Bourne trübselig,»wäre uns allen geholfen.«
Obwohl Dr. Ambrus sichtlich betroffen war, hielt er Wort und nahm sie in sein Haus in Buda hoch über der Donau mit, in dem er ein kleines Sprechzimmer hatte, wo andere vielleicht ein Arbeitszimmer gehabt hätten. Vor dem Fenster rankten Kletterrosen, aber die Geranienkästen waren noch leer und warteten auf wärmeres Wetter. Drinnen gab es cremeweiße Wände, weißen Stuck an der Decke und auf den Schränken gerahmte Fotos von Ambrus’ Frau mit seinen beiden Söhnen.
Während Bourne auf dem Untersuchungstisch saß, suchte Dr. Ambrus leise vor sich hinsummend aus den Schränken zusammen, was er brauchte. Als er zu seinem Patienten zurückkam, der den Oberkörper hatte freimachen müssen, schaltete er eine verspiegelte starke Lampe ein, die er auf das Schlachtfeld richtete. Dann machte er sich daran, Bourne einen straffen Dachziegelverband anzulegen, der aus drei Lagen bestand: aus Watte, Verbandmull und einem gummiartigen Material, das Kevlar enthielt, wie er sagte.
«Mehr hätte niemand für Sie tun können«, behauptete er, als er fertig war.
«Ich kriege kaum Luft«, keuchte Bourne.
«Gut, dann haben Sie weniger Schmerzen. «Er klapperte mit Pillen in einem braunen Plastikfläschchen.»Ich würde Ihnen ein Schmerzmittel geben, aber bei einem Mann wie Ihnen. nein, das lassen wir lieber. Das Zeug würde Ihre Sinne abstumpfen, Ihre Reflexe wären langsamer, und ich würde Sie vielleicht auf einer Steinplatte liegend Wiedersehen.«
Bourne lächelte über Ambrus’ missglückten Scherz.»Ich werde mein Bestes tun, um Ihnen diesen Anblick zu ersparen. «Er wollte seine Geldbörse ziehen.»Was bin ich schuldig?«
Dr. Ambrus hob abwehrend die Hände.»Bitte!«
«Wie können wir Ihnen sonst danken, Istvan?«, fragte Annaka.
«Sie wiederzusehen, meine Liebe, ist Lohn genug. «Dr. Ambrus nahm ihr Gesicht in die Hände, küsste sie erst auf eine Wange, dann auf die andere.»Versprechen Sie mir, bald einmal zum Abendessen zu uns zu kommen. Bela hat erst neulich nach Ihnen gefragt. Kommen Sie, meine Liebe, kommen Sie bald! Sie kocht Ihnen das Gulyas, das Sie als Kind so gern gegessen haben.«
«Ich versprech’s Ihnen, Istvan. Bald.«
Dr. Ambrus, der mit diesem versprochenen Lohn zufrieden war, ließ sie gehen.
Kapitel dreiundzwanzig
«Wegen Randy Driver muss irgendwas unternommen werden«, sagte Lindros.
Der CIA-Direktor unterschrieb noch einige Briefe und legte sie in den mit Ausgang bezeichneten Drahtkorb, bevor er aufsah.»Wie ich höre, haben Sie ihm gründlich die Meinung gesagt.«
«Das verstehe ich nicht. Ist das für Sie ein Grund zur Belustigung, Sir?«
«Das müssen Sie mir nachsehen, Martin«, sagte er mit einem Grinsen, das er absichtlich nicht unterdrückte.»Ich habe derzeit nicht viel zu lachen.«
Die helle Sonne, die den ganzen Nachmittag lang das vor dem Fenster stehende Denkmal mit den drei Soldaten aus dem Unabhängigkeitskrieg beschienen hatte, war untergegangen, so dass die jetzt umschatteten Gestalten müde wirkten. Die fragile Helligkeit eines weiteren Frühlingstags war allzu rasch der Nacht gewichen.
«Ich will, dass er angewiesen wird, mit mir zusammenzuarbeiten. Ich will Zugang zu.«
Das Gesicht des Direktors verfinsterte sich.»>Ich will, ich will< — was sind Sie, ein Dreijähriger?«
«Sie haben mich mit den Ermittlungen wegen der Morde an Conklin und Panov betraut. Ich tue nur, was Sie mir aufgetragen haben.«