Hand zitterte, und Lindros sah jetzt, dass seine Augen vor Wut glasig waren.
Lindros sah eine Chance, die er als ausgezeichneter Taktiker sofort nutzte.»Die Nationale Sicherheitsberaterin wünscht, dass der Doppelmord aufgeklärt und möglichst rasch unter den Teppich gekehrt wird. Aber wenn die Annahme, Jason Bourne sei der Täter, falsch ist, überzeugen auch die sehr nachdrücklich vorgetragenen Argumente der Sicherheitsberaterin nicht.«
Der Alte sah auf und starrte seinen Stellvertreter forschend an.»Ich kenne Sie, Martin. Sie haben bestimmt schon einen Plan, nicht wahr?«
«Ja, Sir, den habe ich. Aber um ihn durchzuführen, bin ich auf Randy Drivers volle Kooperation angewiesen.«
Ihr Ober servierte den klein geschnittenen Salat.
Der Direktor wartete, bis sie wieder allein waren, dann schenkte er Lindros und sich Whiskey nach. Mit verkniffenem Lächeln fragte er:»Diese Sache mit Randy Driver
— ist die wirklich nötig?«
«Nicht nur nötig, Sir. Sie ist entscheidend.«
«Entscheidend, hm?«Der Alte stocherte in seinem Salat herum, hielt eine aufgespießte Tomate hoch und betrachtete sie nachdenklich.»Also gut, ich unterschreibe die Weisung gleich morgen früh.«
«Danke, Sir.«
Der CIA-Direktor runzelte die Stirn; sein Blick suchte den seines Stellvertreters und ließ ihn nicht mehr los.»Danken können Sie mir nur auf eine Art, Martin: Verschaffen Sie mir die Munition, die ich brauche, um dem Hexenweib eine Breitseite zu verpassen.«
In jedem Hafen ein Mädchen zu haben hatte den Vorteil, das wusste McColl, dass man immer irgendwo unterschlüpfen konnte. Natürlich hatte die Agency in Budapest ein sicheres Haus — sie hatte sogar mehrere, aber er dachte nicht daran, mit seinem blutenden Arm in einem dieser Häuser aufzukreuzen und so seine Vorgesetzten darauf aufmerksam zu machen, dass er’s nicht geschafft hatte, den Mann umzulegen, den er im Auftrag des Direktors hatte liquidieren sollen. In seiner Abteilung der Agency zählten nur Erfolge.
Ilona war zu Hause, als er — den verletzten Arm an sich gedrückt — vor ihrer Tür stand. Er schickte sie in die Küche, um sie eine Mahlzeit zubereiten zu lassen — etwas Proteinhaltiges, damit er wieder zu Kräften kam. Dann verschwand er im Bad, machte den Oberkörper frei und wusch sich das Blut vom rechten Arm, bevor er Wasserstoffperoxyd drüberkippte. Von dem brennenden Schmerz, der seinen Arm durchzuckte, zitterten ihm die Beine, so-dass er sich kurz auf den geschlossenen WC-Deckel setzen musste, bis er sich erholt hatte. Wenig später war der Schmerz zu einem dumpfen Pochen geworden, und er konnte den ihm zugefügten Schaden abschätzen. Die gute Nachricht war, dass die Wunde sauber war, weil er einen glatten Oberarmdurchschuss hatte. Er beugte sich zur Seite, um den rechten Ellbogen auf den Waschbeckenrand stützen zu können, kippte noch mehr Peroxyd in die Wunde und pfiff dabei leise durch die Zähne. Dann stand er auf und suchte in den Hängeschränken vergeblich nach Mullbinden, Heftpflaster oder sonstigem Verbandmaterial. Unter dem Waschbecken fand er jedoch eine Rolle starkes Gewebeband, von dem er mit einer Nagelschere ein langes Stück abschnitt, das er straff um seinen Oberarm wickelte.
Als er aus dem Bad kam, hatte Ilona die Mahlzeit fertig. Er setzte sich an den Küchentisch und verschlang das Essen, ohne es wirklich zu schmecken. Es war heiß und nahrhaft, mehr interessierte ihn nicht. Sie stand hinter ihm und massierte seine angespannten Schultermuskeln.
«Du bist ganz verkrampft«, sagte Ilona. Sie war zierlich und schlank, hatte blitzende Augen, lächelte viel und hatte Kurven an allen richtigen Stellen.»Was hast du gemacht, nachdem du aus dem Bad gestürmt bist? Da warst du richtig entspannt.«
«Arbeit«, sagte er lakonisch. Wie er aus Erfahrung wusste, war es unklug, ihre Fragen unbeantwortet zu lassen, obwohl er nicht die geringste Lust hatte, Konversation zu machen. Er musste seine Kräfte sammeln, um den zweiten und endgültigen Überfall auf Bourne zu planen.»Ich habe dir gesagt, dass meine Arbeit kein Zuckerschlecken ist.«
Ihre begabten Finger kneteten weiter seine Verkrampfung weg.»Dann wär’s mir lieber, du würdest sie aufgeben.«
«Ich liebe meine Arbeit«, sagte er und schob den leeren Teller von sich fort.»Ich würde sie niemals aufgeben.«
«Und trotzdem bist du verdrießlich. «Sie kam nach vorn, streckte ihm die Hand hin.»Komm ins Bett. Ich bringe dich auf andere Gedanken.«
«Geh schon voraus«, sagte er.»Warte auf mich. Ich muss ein paar geschäftliche Telefongespräche führen. Anschließend gehöre ich ganz dir.«
In dem kleinen, anonymen Zimmer eines Budapester Flohhotels kündigte der Morgen sich mit Verkehrslärm und Stimmengewirr an. Die Geräusche der erwachenden
Großstadt drangen durch die papierdünnen Wände und weckten Annaka aus ihrem unruhigen Schlaf. In der bleigrauen Morgendämmerung lag sie eine Zeit lang unbeweglich in dem Doppelbett, das sie sich mit Bourne teilte. Schließlich drehte sie den Kopf zur Seite und starrte ihn an.
Wie ihr Leben sich verändert hatte, seit sie ihm auf der Treppe zur Matthiaskirche begegnet war! Ihr Vater war tot, und nun konnte sie nicht in ihr eigenes Apartment zurück, weil Chan und die CIA wussten, wo sie wohnte. Tatsächlich konnte sie ihre meisten Besitztümer ohne weiteres verschmerzen — nur den Flügel nicht. Die Sehnsucht, die sie empfand, glich der — das hatte sie irgendwo gelesen —, unter der eineiige Zwillinge litten, wenn sie durch große Entfernungen voneinander getrennt waren.
Und Bourne? Was empfand sie für ihn? Schwer zu beurteilen, denn in ihrem Inneren war schon in frühester Kindheit ein Schalter umgelegt worden, der alle Gefühlsregungen ausschaltete. Dieser Mechanismus, eine Unterform des Selbsterhaltungstriebs, war selbst den Fachleuten, die solche Phänomene angeblich studierten, ein völliges Rätsel. Er war so tief in ihrer Psyche vergraben, dass sie ihn nie erreichen konnte: ein weiterer Aspekt ihres Überlebenswillens.
Wie in allen anderen Punkten hatte sie Chan belogen, als sie behauptet hatte, sie habe in seiner Nähe die Kontrolle über sich verloren. Sie hatte sich von ihm getrennt, weil Stepan es ihr befohlen hatte. Das hatte ihr nichts ausgemacht; tatsächlich hatte es ihr sogar Spaß gemacht, Chans Gesichtsausdruck zu beobachten, als sie ihm erklärt hatte, es sei aus. Sie hatte ihm wehgetan, was ihr gefallen hatte. Gleichzeitig sah sie, dass er sich etwas aus ihr machte, was sie verwunderte, weil sie dieses Gefühl selbst nicht kannte. Natürlich hatte sie vor langer, langer Zeit ihre Mutter geliebt, aber was hatte ihr dieses Gefühl letztlich genützt? Ihre Mutter hatte sie nicht beschützt; noch schlimmer, sie war gestorben.
Langsam, behutsam rückte sie von Bourne ab, bis sie sich umdrehen und aufstehen konnte. Als sie dann nach ihrem Mantel griff, sprach Bourne, der, aus tiefstem Schlaf erwachend, sofort hellwach war, leise ihren Namen.
Annaka drehte sich erstaunt um.»Ich dachte, du schliefst noch. Habe ich dich geweckt?«
Bourne betrachtete sie ernst.»Wohin gehst du?«
«Ich… wir brauchen Sachen zum Anziehen, ein paar Toilettenartikel.«
Er setzte sich mühsam auf.
«Wie geht’s dir?«
«Ganz gut«, sagte er knapp. Er war nicht in der Stimmung, sich bemitleiden zu lassen.»Außer Kleidung brauchen wir beide etwas zur Tarnung.«
«Wir?«
«McColl hat dich erkannt, das bedeutet, dass er per E-Mail ein Foto von dir bekommen hat.«
«Aber wieso?«Sie schüttelte den Kopf.»Woher hat die CIA gewusst, dass wir zusammen sind?«
«Das hat sie nicht gewusst — zumindest nicht sicher«, erwiderte er.»Ich habe darüber nachgedacht und glaube, dass der einzige Hinweis aus deinem Computer gekommen ist. Als ich ins CIA-Intranet eingedrungen bin, muss ich einen internen Alarm ausgelöst haben.«
«Großer Gott!«Sie schlüpfte in ihren Mantel.»Trotzdem ist’s für mich auf der Straße noch immer viel sicherer als für dich.«