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Er brachte einen Stoß kopierter Originalmanuskripte mit. Es war ein fast feierlicher Moment, als ich jene kaum entzifferbaren Blätter sah, jene unterschiedlichen Schriften, in denen Pessoa von frühester Jugend bis zu seinem Tod unter verschiedenen Namen unterschiedliche Personen – seine Heteronyme – zu Wort hat kommen lassen. Personen mit eigener Biographie, eigenem Aussehen, eigener Persönlichkeit, eigenen philosophischen, religiösen und politischen Ansichten und einem eigenen literarischen Stil. Menschen, die, wie den vereinzelten Rotweinflecken auf den Manuskripten zu entnehmen war, beim Schreiben wohl hin und wieder dem Alkohol zusprachen oder deren Schrift nach Stunden des Denkens und innerer Zwiesprache fahriger und flüchtiger wurde.

Pessoa war ein dem Schreiben Verfallener. Mit 19 tauschte er die Philosophische Fakultät der Universität Lissabon gegen die portugiesische Nationalbibliothek ein, um sich dort der Lektüre der großen Werke der Weltliteratur, Philosophie, Soziologie und Geschichte zu widmen. Mit einer Erbschaft seiner Großmutter gründete er 1907 einen kleinen Verlag nebst Druckerei, der jedoch bald Konkurs machte. Zugunsten einer weitgehend unabhängigen Schriftstellerexistenz lehnte Pessoa einen Lehrauftrag für Englisch an der renommierten Universität Coimbra ebenso ab wie lukrative und leitende Stellenangebote und arbeitete statt dessen von 1908 (seinem zwanzigsten Lebensjahr) an bis zu seinem Tod 1935 für verschiedene Handelshäuser in der Lissabonner Unterstadt als Fremdsprachenkorrespondent. Er lebte zuweilen bei seiner Familie, meist aber zur Untermiete in möblierten Zimmern, die er häufig wechselte. Er schrieb auf Englisch, Französisch und Portugiesisch; Lyrik, Prosa, Theaterstücke, philosophische, religionsphilosophische und politische Abhandlungen und Kritiken. Ungeachtet seines eher einsamen, zurückgezogenen Lebens war Pessoa ein bekannter Intellektueller seines Landes und galt als einer der führenden Köpfe des portugiesischen Modernismus, er war Erfinder und Begründer verschiedener literarischer Strömungen sowie Herausgeber bahnbrechender literarischer Zeitschriften; gleichwohl wurde zu seinen Lebzeiten nur ein Bruchteil seines umfangreichen Werkes veröffentlicht.

1982, 47 Jahre nach Pessoas Tod, erschien in Lissabon beim Verlag Atica postum sein Hauptwerk O Livro do Desassossego (Das Buch der Unruhe). Jacinto do Prado Coelho, Teresa Sobral Cunha und Maria Aliete Galhoz sind die Herausgeber der tagebuchartigen Aufzeichnungen, Notizen und Betrachtungen des pessoanischen Alter egos Bernardo Soares, an denen Pessoa über 20 Jahre, von 1913 bis 1934, geschrieben hat. Sie haben bei der zum Großteil überaus schwierigen Entzifferung der hand- und maschinengeschriebenen losen Sammlung von Texten und Textfragmenten Pionierarbeit geleistet. Da Pessoa, obgleich er plante, eine eigene Werkausgabe mit dem Buch der Unruhe zu eröffnen, nichts zur Anordnung der Texte hinterlassen hat, ist jeder in- und ausländische Herausgeber damit nach eigenem Gutdünken verfahren. Das Buch hat seit 1982 in Portugal drei weitere überarbeitete Ausgaben erfahren. Die letzte, 1998 von Richard Zenith herausgegeben und im Rahmen einer neuen und erweiterten Werkausgabe bei Assírio & Alvim erschienen, liegt heute bereits ebenfalls in einer dritten, verbesserten und erweiterten Auflage vor, an der sich die deutsche Übersetzung orientiert.

Georg Rudolf Lind, der Herausgeber und Übersetzer des 1985 im Ammann Verlag erschienenen Buchs der Unruhe, hat sich in seiner Ausgabe zugunsten eines stringenteren Textes für nur rund die Hälfte der damals und heute vorliegenden Textfragmente entschieden und sie auch nach eigenen, von den damaligen und heutigen portugiesischen Herausgebern abweichenden Kriterien geordnet.

Anders als bei Georg Rudolf Lind wird der Leser hier also kein gestrafftes Werk vorfinden und sich vielleicht über dessen bisweilen repetitiven, obsessiven und fragmentarischen Charakter wundern. Lediglich im Anhang habe ich auf einige wenige Satzfragmente verzichtet, aber einen für das Verständnis des Lesers aufschlußreichen Brief Pessoas an seinen Freund Mario de Sá-Carneiro eingefügt. Bei den über sechshundert von Pessoa vermerkten Wort- und Satzvarianten habe ich mich ebenso wie Lind zumeist an die erste Fassung gehalten und nur in wenigen Fällen zusätzlich eine als interessant erscheinende Variante im Anhang vermerkt.

Hätte Pessoa sein Buch der Unruhe selbst veröffentlicht, wäre dies vielleicht in einer anderen als der uns vorliegenden Form geschehen. So aber gibt es Einblick in Größe und Delirium eines vielfältigen Ichs, einer beunruhigend unruhigen, faszinierenden Existenz.

Zum Schluß möchte ich mich noch bei meinen Freunden und Kollegen für die Unterstützung bei dieser schönen, aber einsamen und nicht immer leichten Arbeit des Übersetzens bedanken; allen voran Birgit Feld-Raetzer und Karin von Schweder-Schreiner.

Inés Koebel

»Das Drama im Menschen«

Zum Gedenken an Manuel Herminio Monteiro

Nachwort des Verlegers zur revidierten Neuausgabe 2003

Fernando Pessoa, dieser Einsame, Große, dessen Werk sich als ein insularer Kontinent in die literarische Geographie der Welt eingeschrieben hat, durchmaß mit kleinen Schritten und einem unbestimmbaren, von innen nach innen träumenden Schauen seinen Kosmos, die Baixa von Lissabon. Sie gab die Bühne ab für sein Leben, Proszenium und Szene zugleich, millimetergenau erfaßte er das Äußere, das Um-ihn-herum mit seinen unablässig vorüberziehenden, parlierenden oder in der nachmittäglichen Ruhe dösenden Menschen, den Gerüchen aus Garküchen und den Rauchschwaden in Kaffeehäusern und Kneipen, den hastig-verschämt gekippten Ginjinhas in Toreingängen, den Tabakläden mit ihren besonderen Opiaten, den flüchtigen Zeitungen mit ihren Nachrichten aus einer Gegenwart from the old world, den schüchtern bimmelnden Elektrischen in den engen Straßen der Unterstadt und mit dem Wind, der vom Meer, vom Tejo her, in die Stadt zieht, dem Regen und dem vom Fahlen ins Blendende wechselnden Farbenspiel unzähliger Sonnenauf- und -untergänge. Eine lebendige, eine menschliche Stadt, über der und durch die ein Hauch von eigen anmutender Melancholie zu wehen scheint.

Das In-ihm-selbst, das in seinem monströsen Umfang nur schwer Erfaßbare, das für uns Leser zu Literatur geworden ist, war seine eigentliche Lebensbühne, die Szene seiner selbst, und auf ihr trat er mit Persönlichkeiten und deren Texten, seinen eigenen Schöpfungen, in einen dichterischen Wettbewerb, der sein unvergleichliches Werk ausmacht und das er, der »dramatische Dichter«, als den er sich empfand, unter dem Titel »Das Drama im Menschen« gesehen hat. Bühne und Spiel – und doch mehr, weil mit dem Leben bezahlt, aber: Gibt es ein Mehr, das darüber hinausginge, ist nicht jedes Leben, selbst das geringste, mit dem Leben bezahlt?

Wenn wir beim Bild der Szene, der Bühne bleiben, dann kann Das Buch der Unruhe so etwas sein wie der Spielboden für Pessoas Schöpfungen, buchstäblich die Bretter, die die Welt bedeuten. Auf ihr wirken, nebst dem von seinem Schöpfer so bezeichneten und über sich selbst gestellten bukolischen Meister Alberto Caeiro, der gelehrte Arzt und Oden-Dichter Ricardo Reis und Álvaro de Campos, der in die Ingenieurskunst verliebte Moderne; zu ihnen, den bedeutenden Dichtern, kommen Alexander Search hinzu, der das Höchste erstrebende, sich gleichzeitig noch auf der Suche danach befindliche englischschreibende Poet, António Mora, der »transzendentale Heide« und »gnostische Christ«, Baron von Teive, der Stoiker, und der mit seinem Erfinder spiegelbildlich verwandte Bernardo Soares, der fleißige Hilfsbuchhalter im Stoffgeschäft von Vasques & Co. in der Unterstadt Lissabons, dem wir die Fragmente des Buches der Unruhe verdanken. Vorzustellen haben wir uns zu den Genannten noch eine Vielzahl von Statisten, deren Namen wir zwar kennen, deren Werke aber nie geschrieben worden sind oder von denen wir nur kleine Proben ihres Könnens vorliegen haben. Sie alle, nicht zuletzt zusammen mit ihrem Erfinder Fernando Pessoa selbst, sind Figuren in diesem großen Spiel, das uns das Werk des Portugiesen als »Drama im Menschen« vor Augen führt. Es ist also ein Weltentwurf zu denken, der als Inszenator den Namen Fernando Pessoas trägt.