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An seinem Hauptwerk in Prosa hat Pessoa 20 Jahre lang mit unterschiedlicher Intensität gearbeitet. Die ersten Aufzeichnungen stammen aus dem Jahr 1913, die letzten aus dem Jahr vor seinem Tod (1934). Der Autor schrieb die Prosastücke zunächst einem gewissen Vicente Guedes, seit 1930 dem Hilfsbuchhalter Bernardo Soares zu. Soares, dessen Biographie und äußere Erscheinung sich ungefähr mit Pessoas decken, wurde vom Dichter selbst – im Gegensatz zu den Heteronymen Caeiro, Reis und Campos – als literarische Person bezeichnet. Nimmt man sowohl Pessoas Definition von Prosa als einer, im Vergleich zur Poesie, »kleineren Lüge« ernst als auch seine Behauptung, Bernardo Soares komme dann zum Vorschein, wenn er müde oder schläfrig sei, so hat der Hilfsbuchhalter seinen Platz in der fiktionalen Welt Pessoas neben Faust und dem lyrischen Ich seiner Gedichte. Während die drei Heteronyme als Daseinsmodelle zu betrachten sind, als Versuche, die Dichotomie von Denken und Empfinden, Traum und Wirklichkeit zu lösen bzw. zu umgehen, steht im Livro do Desassossego das Leiden an dem alle Gefühle und Empfindungen zersetzenden Bewusstsein sowie die schmerzhaft empfundene Auflösung des Ichs im Mittelpunkt.

Bernardo Soares, der von sich behauptet: »Ich erschuf in mir verschiedene Persönlichkeiten. Ich erschaffe ständig Personen. Jeder meiner Träume verkörpert sich, sobald er geträumt erscheint, in einer anderen Person; dann träumt sie, nicht ich«, und damit das Phänomen der Heteronymie genau umschreibt, scheint von allen Fiktionen Pessoas diejenige zu sein, die dem Dichter am nächsten steht. Doch vermeidet Soares jeden intimen Beichtton, er erzählt vielmehr gleichmütig eine »faktenlose Autobiographie«, eine »Geschichte ohne Leben«. Der Hilfsbuchhalter, der in einem Handelsbüro in Lissabon arbeitet und in einem möblierten Zimmer haust, ist ein Flaneur, der seine Umgebung teilnahmslos betrachtet. Doch ist diese Aufmerksamkeit gegenüber den ihn umgebenden Menschen eher Ausgangspunkt zur Selbstreflexion als Ausdruck einer Auseinandersetzung mit der Außenwelt: »Es gibt Tage, an denen jeder Mensch, dem ich begegne, und noch mehr die Menschen, mit denen ich zwangsläufig Umgang habe, wie Symbole aussehen und entweder einzeln oder miteinander verbunden eine prophetische oder okkulte Schrift bilden, aufgezeichnet aus Schatten meines Lebens.« Das bunte Treiben auf den Straßen, fremdes Glück und Leid lassen den Einsamen nur seine Ausgeschlossenheit stärker spüren, jenen nihilistischen Überdruss, über den er im Zustand einer »tiefen und ruhigen Depression« reflektiert. Die Rua dos Douradores, in der sich sein Leben vorzugsweise abspielt, die Menschen, denen er dort begegnet, erscheinen ihm als verkleinertes Abbild von Leben und Welt.

Das Fragment 419 liefert einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der Aufzeichnungen: »Wir alle, die wir träumen und denken, sind Hilfsbuchhalter in einem Stoffgeschäft oder in irgendeinem anderen Geschäft in irgendeiner Unterstadt. Wir führen Buch und erleiden Verluste; wir zählen zusammen und gehen weiter; wir ziehen Bilanz, und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns.« Dieses Bewusstsein ist es, was den Verfasser von seiner Umgebung unterscheidet, was ihn lähmt und jede Gefühlsregung oder zwischenmenschliche Bindung als sinnlos erscheinen lässt.

Während die früheren Fragmente ganz im Bann der Egodokumente des Fin de Siècle stehen – »vom Ungenauen und von Spuren leben zwischen großem Wahnsinnspurpur und falschen Spitzenkrausen erträumter Majestäten« –, weist der zweite, 1929 einsetzende Produktionsschub eine vereinfachte Sprache und einen stärker aphoristischen Charakter auf. Der Primat des Traums vor der Wirklichkeit, die Auflösung des Ich in ein »Übermaß an Selbsten« sowie das Bewusstsein, einer Generation anzugehören, deren schwieriges Erbe eine Welt »ohne Stützen für Leute mit Herz und Hirn« ist, sind einige der stets wiederkehrenden Themen. Bernardo Soares hegt keine Träume von Ausbruch, keine Rimbaud’sche Vision fremder Länder versüßt ihm den grauen Lissabonner Alltag. Mit Novalis teilt er das Wissen, dass alle Erkenntnis im Menschen selbst liegt und durch äußeres Erleben nicht gewonnen werden kann, doch fehlt ihm der romantische Glauben an die erlösende Kraft der Liebe: »Die Liebe wird man satt, oder sie enttäuscht.« Lebensüberdruss des Fin de Siècle und das immer wieder thematisierte Leiden am Bewusstsein fließen zusammen. Das Motiv des Flaneurs, das Stigma des ›poète maudit‹, teilt Bernardo Soares mit den Symbolisten. Explizit verweist er auf Cesário Verdes Lissabonner Tableaus, doch sucht er nicht mehr nach einem Ausweg aus dem Widerstreit zwischen Spleen und Ideal. Er weiß, dass die Unzulänglichkeit in ihm liegt, in der von Zeitgenossen thematisierten Aufspaltung des Ich.

Indem Bernardo Soares den Satz Henri Amiels »Die Landschaft ist ein Geisteszustand« in »Der Geisteszustand ist eine Landschaft« verkehrt, vollzieht er den Übergang zum Modernismus, dem das Gefühl des Individuums zugrunde liegt, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Allein der Glaube an die überdauernde Macht der Literatur rettet das Werk vor dem gänzlichen Nihilismus. Nur die Literatur, als »Verwirklichung ohne den Makel der Wirklichkeit«, scheint erstrebenswert, das »Ziel, das jede menschliche Anstrengung ansteuern sollte, wenn sie wahrhaft menschlich und nicht ein Überrest der Tierhaftigkeit wäre. Ich glaube, eine Sache ausdrücken heißt ihre Kraft bewahren und ihr den Schrecken nehmen. Die Felder sind grüner in der Beschreibung als in ihrem Grün. Wenn man die Blumen mit Sätzen beschreibt, die sie im Bereich der Phantasie definieren, besitzen sie Farben von einer Haltbarkeit, die ihr zellenhaftes Leben nicht hergibt.«

Für die Pessoa-Forschung lieferte diese späte Veröffentlichung wichtige Impulse. Nicht nur für eine psychoanalytische Auseinandersetzung mit dem Fall Pessoa und dem Thema der Sexualität gibt es wichtige Anhaltspunkte – Bernardo Soares erklärt seine Unfähigkeit, zu lieben und menschliche Beziehungen einzugehen, mit dem frühen Tod der Mutter und dem daraus entstandenen Mangel an Zärtlichkeit und liebevoller Zuwendung –, auch die Auseinandersetzung mit Pessoas Lyrik erfährt neue Anregungen, indem das Phänomen der Heteronymie bei Pessoa nun als Ausdruck einer tieferen Heteronymie erkannt wird, von der Caeiro, Reis, Campos weder die Übersetzung noch die Lösung sind, sondern der innere, organisch instabile Ausdruck. Ana-Maria Cortes-Rosa KollertAus: Kindlers Literatur Lexikon. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold (ISBN 978-3-476-04000-8). – © der deutschsprachigen Originalausgabe 2009 J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart (in Lizenz der Kindler Verlag GmbH).

Aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur:

Fernando António Nogueira Pessoa

Geb. 13.6.1888 in Lissabon;gest. 30.11.1935 ebd.

Der größte portugiesische Dichter des 20. Jahrhunderts war eine geniale, vielschichtige, in sich gespaltene, widersprüchliche Persönlichkeit. In ihm vollzog sich, in seinen eigenen Worten, ein »Drama em gente«, ein Drama in Menschen, in Persönlichkeiten. Dessen Ausdruck besteht darin, dass er im Laufe seines Lebens rund 70 verschiedene Namen benutzte. Er begann damit – noch spielerisch – bereits als Kind. Als junger Mann verfasste Fernando Pessoa Lyrik in englischer Sprache unter dem Pseudonym Alexander Search. Für sein erst postum veröffentlichtes Hauptwerk O livro do Desassossego por Bernardo Soares (1982; Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, 1985) benutzte er den im Titel genannten Namen als literarische Maske, beschrieb Bernardo Soares aber nicht näher. Daneben schuf er mehrere Persönlichkeiten, denen er seine Feder lieh: Nur schemenhaft bildete er die des Philosophen António Mora aus, andere dagegen – die sogenannten Heteronyme – stehen für eigenständige fiktive Autoren, die P. mit einem jeweils besonderen Stil, Charakter und Lebenslauf sowie eigener Handschrift ausstattete. Die wichtigsten von ihnen sind Alberto Caeiro, Álvaro de Campos und Ricardo Reis. P. publizierte aber auch unter seinem eigenen Namen.