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In seinem Todesjahr erläuterte P. dem Kritiker Adolfo Casais Monteiro brieflich die Entstehung und Bedeutung seiner Heteronyme. Alberto Caeiro wurde von ihm als sein Meister sowie der seiner Heteronyme Álvaro de Campos und Ricardo Reis bezeichnet. P. nannte als sein Geburtsdatum den 16. April 1889 und ließ ihn bereits mit 26 Jahren an Tuberkulose sterben. Er sah ihn als den Begründer eines bukolischen Neuheidentums an und beschrieb ihn als Mann von mittlerem Wuchs, mattblondem Haar und blauen Augen, der menschenscheu, nachdenklich, zurückhaltend gewesen sei und ein unauffälliges Leben geführt habe. Sonderbar griechisch und von innen bestimmt sei er gewesen, legt er de Campos in den Mund. Caeiros Dichtung umfasst außer O Guardador dos rebanhos vor allem O Pastor amoroso (1946; Der verliebte Hirte). Sie ist kontemplativ und eben dadurch, dass Caeiro die Welt als solche akzeptierte, wurde er zum Meister der anderen. Ricardo Reis schuf P. als den ersten Schüler von Caeiro. Er wurde, wie P. sich ausdrückte, am 19. Januar 1914 um elf Uhr nachts in seiner Seele geboren – nach ausgedehnten Debatten über die Auswüchse der modernen Kunst, die P. am Vortag geführt hatte. Als Geburtsdatum gab er indessen den 19. September 1887 an, als Geburtsort Porto, und seine Erziehung ließ er in einer Jesuitenschule stattfinden. Reis wurde Arzt, aber es ist offen, ob er diesen Beruf je ausübte. P. nannte ihn einen überzeugten Monarchisten und ließ ihn infolgedessen aus Protest gegen die Ausrufung der Republik in Portugal nach Brasilien auswandern, wo er bis zu seinem Tode im Jahre 1935 geblieben sei. P. sah auch in ihm einen Neuheiden und schrieb ihm ein trauriges Epikureertum als Lebensphilosophie zu. Der heidnische Mensch solle die Stille suchen und sich von Anstrengung und nützlicher Tätigkeit enthalten, solange die Barbaren, als die er die Christen empfand, herrschten. Bezeichnend für Reis’ Werk sind die an Horaz erinnernden Oden. Álvaro de Campos war der zweite Schüler Caeiros. Er wurde nach P.s Darstellung am 15. Oktober 1890 in Tavira in Südportugal geboren. Von seinem Onkel, einem Priester, habe er Latein gelernt, später in Glasgow Schiffbau studiert, diesen Beruf aber nicht ausgeübt. Nach Lissabon zurückgekehrt, wo er am 30. November 1935 starb, führte er ein untätiges Leben. Er war ungestüm, leidenschaftlich und enthusiastisch. Er wurde von metaphysischen Ängsten geplagt und neigte einerseits zu Temperamentsausbrüchen, andererseits zu bitterer Ironie. Er bekannte sich sowohl zu Liebschaften mit zwei verschiedenen Frauen als auch zu homoerotischen Neigungen. In seinem Schaffen gibt es zwei verschiedene Phasen: Zur ersten, in der er unter dem Einfluss des italienischen Futurismus stand, gehören die zwischen 1914 und 1917 entstandenen großen Oden, vor allem die Ode triunfal (1915; Triumph-Ode), die Ode marítima (1915; Meeresode) und Opiário (1915; Opiumhöhle). Seine ekstatische Dichtung enthält für seine Zeit schockierende, anstößige Elemente. Ganz anders galt die zweite Phase eher einer Poesie des existentiellen Scheiterns – typisch dafür ist Tabacaria (1928; Tabakladen). Werkausgabe: Werke. 7 Bde. Zürich 1997.Kurt ScharfAus: Metzler Lexikon Weltliteratur. Herausgegeben von Axel Ruckaberle (ISBN 978-3-476-02093-2). © 2006 J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart

Endnoten

1       A.d.Ü.: Orpheu: Zeitschrift des portugiesischen Modernismus, 1915 von Pessoa ins Leben gerufen. Obgleich nur in zwei Ausgaben erschienen, war sie wegbereitend für die portugiesische Literatur des 20. Jahrhunderts.

2       A.d.Ü.: Im übrigen Text wird stets nur ein Zimmer erwähnt.

3       A.d.Ü.: Pessoa selbst hat sowohl kurz in Durban als auch kurz in Lissabon studiert. Allerdings ohne einen Abschluß.

4       Cesario Verde (1855 – 1886), Dichter und kaufmännischer Angestellter, führte unter dem Einfluß Baudelaires neue Stilelemente, wie den großstädtischen Alltag und Sozialkritik, in die portugiesische Dichtung des 19. Jahrhunderts ein. Siehe auch Text 268.

5       A.d.Ü.: Im übrigen Text stets vierter Stock. Offenbar ein Irrtum des Autors.

6       A.d.Ü.: Antônio Vieira (1608 – 1697), Jesuit, Missionar, Diplomat, verbrachte einen Großteil seines Lebens in Brasilien, gilt als einer der bedeutendsten Prosastilisten portugiesischer Sprache. Siehe auch Texte 36 und 83.

7       A.d.Ü.: Pessoa selbst war siebenunddreißig Jahre alt, als seine Mutter starb. Als er sieben war, ging sie, früh verwitwet, eine zweite Ehe ein, ein Schritt, der für Pessoa möglicherweise einem Verlust gleichkam.

8       A. d.Ü.: Pessoa war fünf Jahre alt, als sein Vater in Lissabon, wo die Familie lebte, an der Schwindsucht starb.

9       A.d.Ü.: Frei Luis de Sousa (1555 – 1632), Dominikaner, Geschichtsschreiber und Verfasser von Heiligenbiographien, bekannt für seinen eleganten Stil. Siehe auch Text 83.

10       A.d.Ü.: Heteronym Pessoas und »Lehrmeister« all seiner übrigen Heteronyme.

11       A.d.Ü.: Aus: Fernando Pessoa: Alberto Caeiro: Dichtungen, Ammann Verlag, Herbst 2004.

12       A.d.Ü.: Zwei der schönsten Aussichtspunkte Lissabons.

13       Siehe dazu auch Text 36.

14       Wort in Klammern von der Übersetzerin hinzugefügt.

15       A.d.Ü.: Henri-Frédéric Amiel (1821 – 1881), viel im Portugal der 20er Jahre gelesener Schweizer Schriftsteller und Philosoph. Seine postum veröffentlichten Tagebücher zeichnen sich durch schonungslose Selbstanalyse aus.

16       A.d.Ü.: Die hier genannte Biographie erzählt das Leben von Dom Frei Bartolomeu dos Mârtires, einem portugiesischen Erzbischof. Siehe auch Text 36.

17       A.d.Ü.: Siehe auch Text 3.

18       A.d.Ü.: Terreiro do Paço (Palastplatz), so genannt, da an dieser Stelle vom 16. Jahrhundert an bis zum großen Erdbeben von 1755 der königliche Palast stand. Der große, elegante, am Tejo-Ufer liegende Platz wurde im 18. Jahrhundert wieder aufgebaut und in Praça do Comércio (Handelsplatz) umbenannt.

19       A. R. Zenith: Autor dieser zwei Verse ist José de Espronceda (1808 – 1842). Sie entstammen dem langen Erzählgedicht El Estudiante de Salamanca und wurden von Pessoa im Original angeführt: languidez, mareo/y angustioso afán. In Pessoas Nachlaß findet sich eine unvollständige englische Übersetzung dieses Gedichtes mit dem Titel The Student of Salamanca, und diese ist dem pessoanischen Heteronym Charles James Search zugeschrieben, dem Bruder Alexander Searchs.

20       A.d.Ü.: Siehe auch Text 72.

21       A. R. Zenith: Edmond Scherer (1815 – 1889), französischer Literaturkritiker, Freund Amiels, schrieb ein Vorwort zu dessen postum veröffentlichten Fragments d’un Journal intime. Pessoa zitiert hier irrtümlich falsch. Amiels Tagebuchaufzeichnungen ist zu entnehmen, daß Scherer während eines Gesprächs mit Amiel von der intelligence de la conscience sprach und Amiel selbst von der conscience de la conscience.