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Während ich dies denke, ist der alte Mann meiner Aufmerksamkeit entgangen. Ich sehe ihn nicht mehr. Ich öffne das Fenster, um nach ihm Ausschau zu halten. Ich sehe ihn noch immer nicht. Er ist fort. Er erfüllte mir gegenüber die visuelle Pflicht eines Symbols; damit ist er nun fertig und um die Ecke gebogen. Wenn man mir sagen würde, daß er um die absolute Straßenecke gebogen ist und niemals hier war, nähme ich dies mit derselben Geste hin, mit der ich jetzt das Fenster schließe.

Vollbringen?

Arme krämerhafte Halbgötter, die mit Worten und edlen Absichten Imperien gewinnen und doch dringend Geld für ihr Zimmer und ihr Essen brauchen! Sie wirken wie die Truppen eines im Stich gelassenen Heeres, dessen Anführer einen ruhmreichen Traum hegte, von dem ihnen, in das Schilf eines Sumpfes versprengt, nur die Vorstellung von Größe geblieben ist, das Bewußtsein, einem Heer angehört zu haben, und das Vakuum, nicht einmal gewußt zu haben, was der Anführer, den sie nie zu Gesicht bekamen, eigentlich tat.

So träumt sich jedermann einen Augenblick lang als Anführer des Heeres, aus dessen Troß er geflüchtet ist. So grüßt jeder im Schlamm der Bäche den Sieg, den niemand erringen kann und von dem er übrigblieb wie Brosamen auf einem fleckigen Tischtuch, das man vergessen hat auszuschütteln.

Sie füllen die Zwischenräume des alltäglichen Handelns wie der Staub die Ritzen der Möbel, wenn man sie nicht sorgfältig säubert. Im normalen, gewöhnlichen Tageslicht sieht man sie leuchten wie graue Würmer auf rötlichem Mahagoni. Man kann sie mit dem kleinen Fingernagel entfernen. Aber dazu hat niemand die Geduld.

Meine armen Gefährten, die von hohen Dingen träumen, wie beneide und verachte ich sie! Mein Herz gehört den anderen – den Ärmeren, die sich ihre Träume nur selbst erzählen und nur für sich selbst dichten können, sofern sie denn Verse schreiben – den armen Teufeln, die keine Bücher vorweisen können, deren einzige Literatur ihre Seele ist und die den Erstickungstod sterben, da sie sich nie jener unbekannten, transzendeten Prüfung unterzogen haben, die zum Leben befugt …

Manche sind Helden und strecken fünf Männer an einer Straßenecke von gestern nieder. Andere sind Verführer, und selbst inexistente Frauen wagen nicht, ihnen zu widerstehen. Sie glauben ihren Worten, wenn sie sie sagen, und sagen sie vielleicht, um an sie glauben zu können. Andere […] Für sie sind die Sieger der Welt, wer auch immer sie sein mögen, menschliche Wesen.

Und sie alle winden sich wie Aale in einer Schüssel, unter- und übereinander, und kommen doch nie über den Schüsselrand hinaus. Von einigen sprechen die Zeitungen immer wieder – doch nie der Ruhm.

Sie sind glücklich, weil ihnen der bezaubernde Traum der Dummheit zuteil wurde. Denjenigen aber, die wie ich illusionslose Träume hegen […]

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Schmerzhaftes Intervall

Fragt ihr mich, ob ich glücklich bin, so antworte ich: nein.

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Edel ist es, schüchtern zu sein, ruhmreich, nicht handeln zu können, majestätisch, kein Geschick zum Leben zu haben.

Nur Überdruß, der Distanzierung ist, und Kunst, die Verachtung ist, vergolden unsere [Existenz][14]   mit einem Hauch Zufriedenheit.

Die Irrlichter, die unsere Fäulnis erzeugt, sind zumindest Licht in unserer Finsternis.

Nur das Unglück erhöht, und nur der Überdruß, der aus ihm entsteht, ist heraldisch wie die Nachkommen ferner Helden.

Ich bin ein Brunnen von Gesten, die sich in meinem Innern nicht einmal andeuteten, von Worten, die ich nicht einmal mit einer Bewegung meiner Lippen dachte, von Träumen, die ich vergaß, zu Ende zu träumen.

Ich bin die Ruinen von Häusern, die nie etwas anderes als Ruinen waren, da man bereits während ihres Entstehens müde wurde, sie fertigzustellen.

Vergessen wir nicht, die Genießer zu hassen, weil sie genießen, und die Fröhlichen zu verachten, weil wir unfähig waren, fröhlich zu sein wie sie … Diese künstliche Verachtung, dieser mittelmäßige Haß sind nichts anderes als der unbehauene, erdbeschmutzte Sockel, auf dem die Statue unseres Überdrusses sich unvergleichlich stolz erhebt, eine dunkle Gestalt, ein Antlitz, ein Lächeln, unergründlich und geheimnisvoll.

Wohl denen, die ihr Leben niemandem anvertrauen.

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1041930

Die gewöhnliche Menschheit, und es gibt keine andere, ekelt mich physisch. Bisweilen überkommt mich die Lust, diesen Ekel zu vertiefen, so wie man ein Erbrechen hervorrufen kann, um den Brechreiz loszuwerden.

Ich liebe es, am frühen Morgen, wenn ich die Banalität des neuen Tages fürchte, wie jemand das Gefängnis fürchtet, vor Öffnung der Läden und Warenhäuser durch die Straßen zu schlendern und mir die Satzfetzen anzuhören, die Gruppen junger Mädchen und junger Männer untereinander und zueinander wie Almosen der Ironie in die unsichtbare Schule meines geöffneten Nachdenkens fallen lassen.

Es ist die immer gleiche Abfolge gleicher Sätze … »Und dann hat sie gesagt …«, und der Tonfall verrät die Intrige. »Wenn er es nicht war, dann du …«, und die antwortende Stimme erhebt sich zu einem Protest, den ich nicht mehr höre. »Das hast du gesagt, jawohl, das hast du gesagt …«, und die Stimme der Näherin versichert schrilclass="underline" »Meine Mutter sagt, sie will das nicht …« – »Ich?«, und das Staunen des jungen Mannes mit dem in Butterbrotpapier eingewickelten lunch überzeugt mich nicht und wird wohl auch die unflätige Blondine nicht überzeugen. »Vielleicht war es doch …«, und das Gelächter von dreien der vier Mädchen bedrängt obszön mein Ohr. […] »Und dann habe ich mich vor dem Kerl aufgepflanzt und ihm ins Gesicht gesagt, jawohl, ins Gesicht gesagt, oh, du …« – und der arme Teufel schwindelt, denn sein Bürochef – ich höre es an seiner Stimme, daß sein Kontrahent der Chef des mir unbekannten Büros war – hat die Geste dieses Strohhalm-Gladiators niemals in der Schreibtisch-Arena entgegengenommen. »Und dann bin ich zum Rauchen aufs Klosett gegangen«, lacht der Kleine mit dem dunklen Flicken auf dem Hosenboden.

Andere, die allein oder in Gruppen vorbeigehen, sind stumm oder unterhalten sich, und ich verstehe sie nicht, und doch sind mir alle Stimmen dank einer intuitiven, verschlissenen Transparenz klar und vernehmlich. Ich wage nicht auszusprechen – ja, wage nicht einmal, es mir selber schriftlich zu sagen, auch wenn ich es gleich anschließend wieder ausstreichen würde, was ich in zufälligen, schmutzigen und durchbohrenden Blicken alles beobachtet habe. Ich wage es nicht, denn wenn man schon ein Erbrechen herbeiführt, dann nur einmal.

»Der Kerl war so dick, daß er nicht einmal die Treppe sehen konnte.« Ich hebe den Kopf. Dieser junge Bursche kann wenigstens beschreiben. Und wenn die Leute beschreiben, sind sie besser als wenn sie fühlen, denn beim Beschreiben vergessen sie sich selbst. Mein Ekel läßt nach. Ich sehe den Kerl. Ich sehe ihn mit photographischer Klarheit. Sogar der unschuldige umgangssprachliche Ausdruck belebt mich. Gepriesen sei die Luft, die meine Stirn streift – ein Kerl, so dick, daß er nicht einmal sehen konnte, daß die Treppe aus Stufen bestand –, vielleicht war es die Treppe, auf der die Menschheit emporstolpert, sich vorwärts tastet und auf der trügerischen Steigung diesseits des Hinterhofs ins Gedränge gerät.