Выбрать главу

Nichts kennzeichnet den Höhepunkt einer Zivilisation besser als die Erkenntnis ihrer Mitglieder von der Fruchtlosigkeit aller Anstrengung, denn Gesetze lenken uns, und nichts kann sie abschaffen noch verhindern. Vielleicht sind wir Sklaven, gefesselt an die Götter, die stärker sind als wir, aber nicht besser, und wie wir der Regentschaft eines abstrakten Schicksals unterworfen, erhaben über Güte und Gerechtigkeit und gleichgültig gegenüber Gut und Böse.

178

Wir sind Tod. Was wir als Leben ansehen, ist der Schlaf des wirklichen Lebens, der Tod dessen, was wir wirklich sind. Die Toten werden geboren, sie sterben nicht. Die Welten sind für uns vertauscht. Wenn wir zu leben meinen, sind wir tot; wenn wir sterben, beginnen wir zu leben.

Die Beziehung zwischen Schlaf und Leben ist die gleiche wie zwischen dem, was wir als Leben, und dem, was wir als Tod bezeichnen. Wir schlafen, und dieses Leben ist ein Traum, nicht im metaphorischen oder poetischen, sondern im tatsächlichen Sinn.

Alles, was wir zu unseren höheren Tätigkeiten zählen, all das hat Anteil am Tod, all das ist Tod. Was anderes ist ein Ideal als das Eingeständnis der Wertlosigkeit des Lebens? Was anderes ist Kunst als die Verneinung des Lebens? Eine Statue ist ein toter Körper, geschaffen, um den Tod in einem unvergänglichen Stoff festzuhalten. Die Lust, die wie ein Eintauchen ins Leben auf uns wirkt, ist eher ein Eintauchen in uns selbst, eine Zerstörung der Beziehungen zwischen uns und dem Leben, ein bewegter Schatten des Todes.

Leben heißt sterben, denn wir haben in unserem Leben nicht einen Tag mehr, der nicht ein Tag weniger wäre.

Wir bevölkern Träume, wir sind Schatten, die durch unmögliche Wälder irren, in denen die Bäume Häuser, Sitten, Ideen, Ideale und Philosophien sind.

Nie Gott begegnen, nie wissen, ob Gott überhaupt existiert! Von Welt zu Welt gehen, von Inkarnation zu Inkarnation und stets in der schmeichelnden Illusion, stets im tröstlichen Irrtum.

Doch nie die Wahrheit und nie ein Ruhen. Nie Einswerden mit Gott! Nie ganz im Frieden, doch immer mit ein wenig Frieden und immer mit der Sehnsucht nach ihm!

179

Ein kindlicher Instinkt in der Menschheit bewirkt, daß selbst der Stolzeste unter uns, sofern er Mensch ist und nicht verrückt, sich, o allerseligster Vater!, nach einer väterlichen Hand sehnt, die ihn, auf welche Weise auch immer, durch Geheimnis und Wirrnis der Welt führt. Jeder von uns ist ein Staubkorn, das der Wind des Lebens aufhebt und wieder fallen läßt. Daher bedürfen wir einer festen Stütze, einer anderen Hand, in die wir unsere kleine Hand legen können; denn die Stunde ist stets ungewiß, der Himmel stets fern und das Leben stets fremd.

Selbst der Höchste unter uns hat nur eine tiefe Kenntnis von der Nichtigkeit und Ungewißheit aller Dinge.

Vielleicht werden wir von einer Illusion geleitet; vom Bewußtsein sicher nicht.

180

Sollte ich eines Tages dank einer vollkommen gesicherten Lebensstellung frei schreiben und publizieren können, so weiß ich, werde ich Sehnsucht nach meinem jetzigen ungesicherten Leben bekommen, in dem ich wenig schreibe und nichts veröffentliche. Ich werde Sehnsucht bekommen, nicht weil mein jetziges vergebliches Leben der Vergangenheit angehören und nie wiederkehren wird, sondern weil jede Lebensweise ihre ihr eigenen Qualitäten hat und ihre besonderen Freuden, und beginnt man ein anderes, selbst besseres Leben, machen diese besonderen Freuden weniger glücklich, erweisen sich diese Qualitäten als weniger gut; bis man sie nicht mehr als solche empfindet und ein Gefühl des Mangels entsteht.

Sollte ich eines Tages das Kreuz meiner Absichten auf den Kalvarienberg tragen können, werde ich einen Kalvarienberg auf dem Kalvarienberg vorfinden und Sehnsucht verspüren nach der Zeit, als er für mich noch nichtig, müßig und unerreichbar war. Ich werde in gewisser Weise weniger sein.

Ich bin müde. Der Tag war bedrückend mit seiner sinnlosen Arbeit im nahezu leeren Büro. Zwei Angestellte sind krank, die übrigen abwesend. Ich bin allein, bis auf den Laufburschen hinten in seiner Ecke. Ich verspüre Sehnsucht, eines Tages möglicherweise Sehnsucht verspüren zu können, die selbst dann noch sinnlos ist.

Am liebsten bäte ich die Götter, die es geben mag, mich hier aufzubewahren wie in einem Tresor, sicher vor den Unbilden und den Glücksmomenten des Lebens.

181

In den schwachen Schatten des letzten Lichtes, ehe der Tag der Nacht weicht, genieße ich es, ohne zu denken durch das zu streifen, zu dem die Stadt wird, und ich laufe, als gäbe es für nichts Heilung. Und mit mir ist eine vage Traurigkeit, der sich meine Phantasie mehr erfreut als meine Sinne. Ich laufe und durchblättere inwendig, ohne zu lesen, ein Buch, dessen Text gespickt[33]   ist mit flüchtigen Bildern, und entwickle aus ihnen gemächlich eine nie zu Ende gedachte Idee.

Manch einer liest so schnell, wie er schaut, und kommt er zum Ende, hat er nicht alles gesehen. So entnehme ich dem Buch, das sich von selbst in meiner Seele umblättert, eine schattenhafte Geschichte, Erinnerungen eines anderen Wanderers, bruchstückhafte Beschreibungen der Dämmerung oder des Mondscheins, in der Mitte Parkanlagen und Alleen, bevölkert von seidigen Gestalten, die vorübergehen, vorüber …

Ich unterscheide nicht zwischen dem einen und dem anderen Überdruß. Ich gehe zugleich durch die Straße, durch den Abend und durch meine Traumlektüre und beschreite all diese Wege wirklich. Wege in die Emigration und die Ruhe, als befände ich mich an Bord eines Schiffes schon auf hoher See.

Plötzlich leuchten zu beiden Seiten der langen, gewundenen Straße die toten Laternenlichter auf. Wie auf einen Schlag verdichtet sich meine Traurigkeit. Das Buch ist zu Ende. In der klebrigen Luft der abstrakten Straße tropft ein äußerer Gefühlsfaden wie der Speichel eines dummen Schicksals auf das Bewußtsein meiner Seele.

Wie anders ist das Leben einer Stadt, in der es Nacht wird. Wie anders ist die Seele eines Menschen, der das Kommen der Nacht betrachtet. Ungewiß und allegorisch gehe ich weiter, unwirklich wahrnehmend. Ich bin wie eine Geschichte, die jemand erzählt hat, so gut erzählt, daß sie Fleisch geworden ist zu Beginn eines der Kapitel dieses Romans, der die Welt ist: »Zu dieser Stunde konnte man einen Mann sehen, der langsam die Straße entlangging …«

Was habe ich zu tun mit dem Leben?

182

Intervall

Ich habe mein Leben verfehlt, noch bevor es begann, denn nicht einmal geträumt erschien es mir reizvoll. Traummüde nahm ich nur falsch noch wahr und äußerlich, als sei ich an das Ende einer unendlichen Straße gelangt. Ich trat über meine Ufer, verströmte mich, wohin weiß ich nicht, und stehe dort nun still, nutzlos. Ich bin etwas, das ich war. Bin nie, wo ich fühle, daß ich bin, und suche ich mich, weiß ich nicht, wer mich sucht. Der Überdruß an allem schwächt mich. Ich fühle mich aus meiner Seele vertrieben.

Ich beobachte mich, bin mein eigener Zuschauer. Meine Empfindungen ziehen wie äußere Dinge vor ich weiß nicht welchem meiner Blicke vorüber. Ich bin mir meiner in allem überdrüssig. Alle Dinge haben, bis tief in das Geheimnis ihrer Wurzeln, die Farbe meines Überdrusses.

Welk schon waren die Blumen, welche die Horen mir gaben. Ich sollte handeln und kann doch nur langsam ihre Blätter zerpflücken. Und so viel Altern liegt darin!

Jedes Tun, sei es noch so gering, fällt mir schwer wie eine Heldentat. Allein die Vorstellung einer Geste, und sei sie noch so klein, ermüdet mich, als wollte ich sie tatsächlich ausführen.