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Das beste Beispiel eines praktischen Menschen ist der Stratege, da sich in ihm äußerste Konzentration des Handelns und größte Wirksamkeit zusammenfinden. Das ganze Leben ist Krieg, und die Schlacht ist mithin die Synthese des Lebens. Nun aber ist der Stratege ein Mensch, der mit Menschenleben spielt wie der Schachspieler mit Schachfiguren. Was würde aus dem Strategen, wenn er daran dächte, daß jeder Zug seines Spiels Nacht in tausend Familien trägt und Leid in dreitausend Herzen? Was würde aus der Welt, wenn wir menschlich wären? Wenn der Mensch wirklich fühlte, gäbe es keine Zivilisation. Die Kunst dient der vom Handeln zwangsläufig vergessenen Sensibilität als Zuflucht. Die Kunst ist das Aschenputtel, das zu Hause blieb, weil es so sein mußte.

Jeder Mensch der Tat ist seinem Wesen nach lebhaft und optimistisch, weil glücklich ist, wer nicht fühlt. Einen Mann der Tat erkennt man daran, daß er nie schlecht gelaunt ist. Wer arbeitet, obwohl er schlecht gelaunt ist, ist ein Handlanger des Handelns; er mag im Leben, im großen Allgemeinen des Lebens ein Buchhalter sein, wie ich es in meinem besonderen bin; er kann nicht Herrscher über Menschen und Dinge sein. Zur Herrschaft gehört Fühllosigkeit. Es herrscht, wer heiter ist, denn um traurig zu sein, muß man fühlen.

Chef Vasques schloß heute ein Geschäft ab, bei dem er einen kranken Mann und seine Familie ruiniert hat. Während des Vorgangs vergaß er völlig, daß da ein Mensch vor ihm saß, er sah nur den kommerziellen Widersacher. Als das Geschäft abgeschlossen war, überkam ihn die Sensibilität. Erst dann natürlich, denn hätte sie dies schon vorher getan, wäre das Geschäft nie zustande gekommen. »Der Kerl tut mir leid«, sagte er zu mir. »Das geht nicht lange gut.« Dann steckte er sich eine Zigarre an und fügte hinzu: »Jedenfalls, wenn er etwas von mir brauchen sollte« – er meinte ein Almosen – »werde ich nicht vergessen, daß ich ihm ein gutes Geschäft verdanke und etliche zehntausend Escudos.«

Chef Vasques ist kein Unmensch: er ist ein Mann der Tat. Wer immer bei diesem Spiel den kürzeren zieht, kann tatsächlich – denn Chef Vasques ist ein großzügiger Mensch – in der Zukunft mit seinen Almosen rechnen.

Wie Chef Vasques sind alle Männer der Tat: Industrie- und Handelsbosse, Politiker, Militärs, religiöse und gesellschaftliche Idealisten, große Dichter und Künstler, schöne Frauen und Kinder, die nur das tun, was sie wollen. Es befiehlt, wer nicht fühlt. Es siegt, wer nur an das denkt, was er zum Siegen braucht. Alles übrige, die unbestimmte allgemeine Menschheit, gestaltlos, sensibel, phantasievoll und zerbrechlich, ist nur der Vorhang im Hintergrund, vor dem sich diese Figuren auf der Bühne abheben, bis das Marionettentheater endet, der quadratförmig angeordnete Untergrund, auf dem die Schachfiguren stehen, bis sie der Große Spieler einsteckt, der, indem er sich mit einer Doppelpersönlichkeit austrickst, immer gegen sich selbst spielt und dabei seinen Spaß hat.

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Der Glaube ist der Instinkt allen Handelns.

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Meine lebenswichtige Gewohnheit, an nichts zu glauben, insbesondere an nichts Instinktives, und meine natürliche Neigung zur Unaufrichtigkeit verneinen alle Hindernisse, die mich davon abhalten, beständig entsprechend zu handeln.

Im Grunde gestalte ich meinen Traum vermittels anderer, beuge mich ihren Meinungen, um sie mir mit meinem Verstand und meiner Intuition zu eigen zu machen (da ich keine Meinung habe, kann ich die ihre so gut wie jede andere annehmen), um sie nach Belieben zurechtzubiegen und aus den fremden Persönlichkeiten etwas meinen Träumen Verwandtes zu gestalten.

Ich stelle den Traum derart dem Leben voran, daß es mir gelingt – im verbalen Umgang (einen anderen habe ich nicht) –, weiterzuträumen und durch fremde Meinungen und fremde Gefühle auf der fließenden Linie meiner amorphen Persönlichkeit fortzubestehen.

Die anderen sind Kanäle oder Rinnen, in denen das Meerwasser nur nach ihrem Gefallen fließt und durch sein Glitzern in der Sonne ihre krummen Gedankenläufe wirklicher zeigt, als ihre Trockenheit dies je könnte.

Bei rascher Analyse scheint mir mitunter, daß ich ein Parasit der anderen bin, in Wirklichkeit aber nötige ich sie, Parasiten meiner künftigen Gefühlsregungen zu sein. Ich lebe und wohne in den Gehäusen ihrer Persönlichkeiten. Ich präge ihre Schritte meinem Geist ein und nehme sie so tief in mein Bewußtsein auf, daß letztlich ich es bin, der diese Schritte vollzogen hat und diese Wege gegangen ist.

Da ich die Gewohnheit habe, mich aufzuspalten, und gleichzeitig zwei oder mehreren Gedankengängen folge, kann ich, indem ich mir die Art des Fühlens anderer mit äußerster Klarheit zu eigen mache, in mir ihren mir unbekannten Seelenzustand analysieren und zu einer rein objektiven Analyse ihres Seins und Denkens kommen. So, zwischen Träumen, ohne meine Träumerei auch nur für einen Augenblick zu unterbrechen, durchlebe ich nicht nur die Quintessenz ihrer bisweilen abgestorbenen Emotionen, sondern ergründe und ordne auch die innere Logik ihrer verschiedenen, bisweilen noch auf dem Seelengrund schlafenden Geisteskräfte ein.

Und bei alledem entgeht mir nichts – nicht ihre äußere Gestalt, nicht ihre Kleidung noch ihre Gesten. Ich erlebe zugleich ihre Träume, ihre triebhafte Natur, ihren Körper und ihre Verhaltensweisen. In einer großen geeinten Zersplitterung bin ich überall zugleich in ihnen, und ich erschaffe und bin in jedem Augenblick unseres Gesprächs eine Vielfalt bewußter wie unbewußter, analysierter wie analytischer Wesen, die sich zu einem weit offenen Fächer vereinen.

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Ich gehöre zu einer Generation, die den Unglauben an den christlichen Glauben geerbt und in sich den Unglauben gegenüber allen anderen Glaubensüberzeugungen geschaffen hat. Unsere Eltern besaßen noch den Impuls des Glaubens und übertrugen ihn vom Christentum auf andere Formen der Illusion. Einige waren begeisterte Verfechter der sozialen Gleichheit, andere nur in die Schönheit verliebt, andere glaubten an die Wissenschaft und ihre Vorzüge, und wieder andere blieben dem Christentum stärker verbunden und suchten in Orient und Okzident nach religiösen Formen, mit denen sie das ohne diese Formen hohle Bewußtsein, schlicht am Leben zu sein, beschäftigen konnten.

All das haben wir verloren, wir sind geboren ohne all diese Tröstungen. Jede Zivilisation folgt der inneren Linie einer Religion, die sie repräsentiert: Zu anderen Religionen überwechseln heißt, seine Religion und somit letztendlich alle Religionen verlieren.

Wir haben diese eine eingebüßt und die anderen ebenfalls.

Mithin ist jeder einzelne von uns sich selbst überlassen worden und dem trostlosen Gefühl zu leben. Ein Schiff scheint ein Gegenstand zu sein, dessen Bestimmung die Seefahrt ist; doch nicht die Seefahrt ist seine Bestimmung, sondern das Einlaufen in einen Hafen. Wir befanden uns auf hoher See, ohne die Vorstellung von einem Hafen, in dem wir hätten Zuflucht suchen können. So wiederholen wir auf schmerzliche Art und Weise die Abenteuerformel der Argonauten: Seefahrt muß sein, Leben nicht.

Illusionslos leben wir nur im Traum, der Illusion derer, die keine Illusionen haben können. Aus uns selber lebend, vermindern wir unseren Wert, denn der vollkommene Mensch ist der Mensch, der sich nicht kennt. Ohne Glauben haben wir keine Hoffnung, und ohne Hoffnung haben wir kein wirkliches Leben. Da wir keine Vorstellung von der Zukunft haben, haben wir auch keine Vorstellung vom Heute, denn das Heute ist für den Handelnden nur ein Vorspiel der Zukunft. Unser Kampfeswille war eine Totgeburt, denn wir kamen ohne Kampfgeist auf die Welt.

Einige von uns lebten dahin in der schalen Eroberung des Alltags, gemein und niedrig auf der Jagd nach dem täglichen Brot, und sie wollten es ohne das Gefühl der Arbeit, ohne das Bewußtsein der Anstrengung, ohne den Adel des Gelingens.