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Ich möchte sterben, zumindest zeitweilig, doch das, wie gesagt, nur weil ich Kopfschmerzen habe. Aber just in diesem Augenblick kommt mir in den Sinn, mit wieviel mehr Noblesse dies ein großer Prosastilist sagen würde. Er würde Satz für Satz das namenlose Leid der Welt benennen; seine sinnenden Augen ersännen Passage um Passage die vielfältigen menschlichen Dramen dieser Erde, und beim Pochen fiebriger Schläfen entstünde auf dem Papier eine umfassende Metaphysik des Unglücks. Mir jedoch fehlt der stilistische Adel. Ich habe Kopfschmerzen, weil mich der Kopf schmerzt. Ich habe Weltschmerz, weil mich der Kopf schmerzt. Doch die Welt, die mich wirklich schmerzt, ist nicht die wahre Welt, diejenige, die existiert, weil sie nicht weiß, daß ich existiere, sondern diese andere Welt, die nur mir gehört, die mich, wenn ich mir mit den Händen durchs Haar fahre, fast fühlen läßt, daß mein Haar nur leidet, damit ich leide.

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Das Erstaunen, das mir meine Fähigkeit zur Seelenqual bereitet. Obwohl ich dem Wesen nach kein Metaphysiker bin, habe ich Tage schmerzlichster, ja physischer Qual damit verbracht, metaphysische und religiöse Probleme zu drehen und zu wenden … Rasch merkte ich, daß, was ich für die Lösung des religiösen Problems hielt, nichts anderes als das Rationalisieren eines emotionalen Problems war.

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Es gibt für kein Problem eine Lösung. Keiner von uns löst den gordischen Knoten; entweder geben wir auf, oder aber wir schlagen ihn in der Mitte durch. Wir lösen intellektuelle Probleme abrupt mit unserem Gefühl, entweder weil wir des Denkens müde sind, uns scheuen, Schlüsse zu ziehen, das absurde Bedürfnis nach Unterstützung verspüren oder weil der Herdentrieb uns erneut den anderen und dem Leben zuführt.

Da wir nie alle Aspekte einer Frage kennen können, können wir sie auch nie lösen.

Um die Wahrheit zu erreichen, fehlen uns die erforderlichen Daten und die intellektuellen Techniken, um diese Daten erschöpfend deuten zu können.

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Monate sind seit meiner letzten Aufzeichnung verstrichen. Mein Verstand hat geschlafen, und so bin ich ein anderer im Leben gewesen. Eine Empfindung transponierten Glücks hat mich häufig begleitet. Ich habe nicht existiert, ich bin ein anderer gewesen; ich habe gelebt, ohne zu denken.

Heute plötzlich bin ich zu dem zurückgekehrt, der ich bin oder zu sein träume. Es war ein Augenblick großer Erschöpfung nach einer Arbeit ohne Bedeutung. Ich habe den Kopf auf meine Hände gestützt und die Ellenbogen auf das hohe, schräge Pult. Als ich die Augen schloß, fand ich mich wieder.

In einem falschen, fernen Schlaf erinnerte ich mich an alles, was gewesen war, und mit der Schärfe einer erschauten Landschaft erstand plötzlich vor mir die Breitseite eines alten Gehöfts, und in der Mitte meines Gesichtskreises lag seine leere Tenne.

Sofort spürte ich die Zwecklosigkeit des Lebens. Sehen, fühlen, erinnern, vergessen – all dies verschmolz in mir durch einen dumpfen Schmerz an den Ellenbogen mit dem undeutlichen Gemurmel von der nahen Straße und den leisen Arbeitsgeräuschen des stillen Büros.

Als ich, die Hände auf dem Pult, über das, was da vor mir lag, meinen Blick schweifen ließ, in dem die Erschöpfung toter Welten lag, entdeckte er zuerst eine Schmeißfliege (das schwache Brummen, das nicht aus dem Büro stammte!) auf dem Tintenfaß. Ich betrachtete sie aus der Tiefe des Abgrunds, anonym und wach. Sie war grünlich bis schwarzblau und glänzte ekelerregend, aber nicht häßlich. Ein Leben!

Wer weiß, für welche höchsten Kräfte, Götter oder Dämonen der Wahrheit, in deren Schatten wir umherirren, ich nur die glitzernde Fliege bin, die sich einen Augenblick vor ihnen niederläßt? Eine banale Bemerkung? Eine längst gemachte Beobachtung? Eine Philosophie ohne Gedanken? Wer weiß, aber ich habe nicht gedacht: Ich habe gefühlt. Körperlich, unmittelbar, mit einem tiefen, dunklen Schaudern habe ich den lächerlichen Vergleich angestellt. Ich war eine Fliege, als ich mich mit der Fliege verglich. Ich fühlte mich als Fliege, als ich annahm, daß ich mich als solche fühlte. Und ich fühlte mich als fliegenhafte Seele, ich schlief als Fliege, ich fühlte mich eingeschlossen als Fliege. Und das Erschreckendste ist, ich fühlte mich gleichzeitig auch als ich. Ohne es zu wollen, sah ich zur Decke empor, damit ja kein allerhöchstes Lineal auf mich niedersauste, um mich zu zerquetschen, wie ich diese Fliege zerquetschen könnte. Zum Glück war die Fliege, als ich den Blick wieder senkte, geräuschlos verschwunden. Das unfreiwillige Büro war abermals ohne Philosophie.

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»Fühlen ist lästig!« Diese von einem Tischgenossen während einer kurzen Unterhaltung dahingesagten Worte haben sich mir funkelnd ins Gedächtnis eingeprägt. Die plebejische Ausdrucksweise verleiht dem Satz Würze.

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Ich frage mich, wie viele wohl mit der gebührenden Aufmerksamkeit je eine menschenleere Straße voller Menschen betrachtet haben. Allein diese Ausdrucksweise scheint etwas anderes besagen zu wollen und will es in der Tat. Eine menschenleere Straße ist nicht etwa eine Straße, auf der niemand geht, sondern eine Straße, auf der Menschen gehen, als wäre sie menschenleer. Dies zu begreifen ist nicht schwer, sofern man es schon einmal gesehen hat, denn für den, der nur Esel kennt, ist ein Zebra unvorstellbar.

Unsere Empfindungen ändern sich entsprechend den Graden und Arten unseres Verständnisses. Bestimmte Arten des Verstehens erfordern bestimmte Arten des Verstandenwerdens.

An manchen Tagen steigt in meinem Kopf, gleichsam vom Boden unter meinen Füßen, ein Überdruß auf, ein Schmerz, eine Lebensangst, die ich nur deshalb nicht als unerträglich empfinde, weil ich sie tatsächlich ertrage. Allem Leben in mir wird die Luft abgeschnürt, mich verlangt, ein in allen Poren anderer zu sein, ich bekomme einen kurzen Vorgeschmack des Endes.

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Ich empfinde vor allem tiefe Müdigkeit und jene Unruhe, die ihre Zwillingsschwester ist, wenn sie keinen anderen Daseinsgrund hat als den zu sein. Ich spüre eine tiefe Angst vor den Gesten, die ich andeuten, und eine geistige Scheu vor den Worten, die ich sagen muß. Alles erscheint mir im voraus verfehlt.

Der unerträgliche Widerwille gegen all diese Gesichter, einfältig vor ungetrübter oder mangelnder Intelligenz, ekelerregend grotesk vor Glück oder Unglück, scheußlich, weil es sie gibt, eine fremde Flut lebender Dinge, mit denen ich nichts zu tun habe …

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In den gelegentlichen Momenten der Distanzierung, in denen wir uns unserer selbst als Individuen, als andere in den Augen anderer bewußt werden, habe ich mich immer gefragt, welchen physischen und auch moralischen Eindruck ich wohl auf all jene mache, die mich tagtäglich oder zufällig sehen und mit mir sprechen.

Wir alle sind daran gewöhnt, uns selbst vorzugsweise als geistige und die anderen als unmittelbar körperliche Wirklichkeiten zu betrachten; uns selbst sehen wir nur vage als körperliche Wesen und so, wie wir auf die anderen wirken; und die anderen sehen wir nur vage als geistige Wirklichkeiten, und nur in der Liebe oder im Konflikt wird uns wirklich bewußt, daß die anderen, wie auch wir, vor allem eine Seele haben.