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Wie wohltuend, ganz und gar allein zu sein, laut Selbstgespräche zu führen, unbehelligt von Blicken umherspazieren und sich zurücklehnen zu können in eine ungestörte Träumerei! Das gesamte Haus wird zum weiten Feld, jeder Raum so groß wie ein Landgut.

Die Geräusche nehmen sich allesamt fremd aus, als gehörten sie zu einem nahen, aber unabhängigen Universum. Endlich sind wir Könige. Danach streben wir alle; das gemeine Fußvolk vielleicht sogar entschiedener als die Herren falscher Pracht. Einen Moment lang sind wir Rentner des Weltalls und leben, unserer regelmäßigen Rente sicher, bedürfnislos und sorgenfrei.

Ach, aber ich erkenne am Schritt auf der Treppe, dem Schritt von ich weiß nicht wem, den Jemand, der zu mir heraufkommt, meine erholsame Einsamkeit zu stören. Meinem stillschweigenden Imperium droht eine Barbareninvasion. Nicht daß mir der Schritt verriete, wer da kommt, nicht, daß mich der Schritt an diesen oder jenen erinnerte, den ich kenne. Ein dumpfer Instinkt in der Seele verrät mir, daß da einer kommt, heraufkommt, einstweilen noch als Schritt auf der Treppe, die ich mit einem Mal gewahr werde, weil ich an den denke, der sie heraufkommt. Jawohl, es ist einer der Angestellten. Er hält inne, die Tür geht auf, er tritt ein. Ich sehe ihn ganz. Und beim Eintreten sagt er zu mir: »Allein, Herr Soares?« Und ich antworte: »Ja, schon länger …« Und während er sich aus seinem Jackett schält, meint er mit einem Blick auf das andere, alte, auf dem Bügeclass="underline" »Wirklich langweilig, wenn man hier so allein ist, Herr Soares, und außerdem …« – »Wie recht Sie haben«, pflichte ich ihm bei. »Man könnte geradewegs einschlafen«, sagt er, bereits in seinem zerschlissenen Jackett, und geht auf seinen Schreibtisch zu. »Stimmt«, bekräftige ich lächelnd. Dann strecke ich die Hand nach dem vergessenen Federhalter aus und trete graphisch erneut in die anonyme Gesundheit normalen Lebens ein.

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Wann immer sie können, setzen sie sich vor den Spiegel. Sie reden mit uns und betrachten sich selbstverliebt. Bisweilen verlieren sie, wie dies Verliebten mitunter geschieht, den Gesprächsfaden. Mich mochten sie immer, denn meine ausgewachsene Abneigung gegen mein Erscheinungsbild ließ mich stets jedem Spiegel den Rücken kehren. So war ich – was sie instinktiv erkannten, da sie mich stets zuvorkommend behandelten – der geborene Zuhörer, einer, der ihrer Eitelkeit und ihrem Redezwang nie Einhalt gebot.

Insgesamt gesehen waren sie in Ordnung; im einzelnen betrachtet gab es darunter solche und solche. Für einen Ermittler von Durchschnittswerten hatten sie überaus erstaunliche Anwandlungen von Großmut und Zartgefühl, während sie für einen normalen Menschen eine kaum vorstellbare Niedertracht und Gemeinheit an den Tag legten. Erbärmlichkeit, Neid und Traumtänzerei bezeichnen nicht nur sie, sondern auch alles, was einfließt aus ihrem Milieu in das Werk wertvoller Menschen, die sich hin und wieder in die Niederungen dieser Kaffeehaussümpfe verirrten. (Bei Fialho[62]   sind dies offenkundiger Neid, gemeine Grobheit und ein ekelerregender Mangel an Eleganz …)

Einige besitzen Witz, andere nur Witz, wieder andere existieren noch nicht. Wobei es zweierlei Kaffeehauswitze gibt, nämlich Scherze über Abwesende und Unverschämtheiten über Anwesende. Diese Art von Geistreichtun bezeichnet man für gewöhnlich nur als Flegelei. Nichts zeigt die Ärmlichkeit des Geistes deutlicher als die Tatsache, daß man einzig auf Kosten anderer Leute geistreich sein kann.

Ich kam, sah – und im Gegensatz zu ihnen siegte ich. Denn mein Sieg bestand im Sehen. Ich sah, daß sie ebenso sind wie alle anderen sozialen Gruppen niederer Natur: Hier in dem Haus, in dem ich ein Zimmer bewohne, habe ich die gleiche erbärmliche Seele gefunden, die sich mir in den Kaffeehäusern zeigte, abgesehen von der Vorstellung – und dafür sei den Göttern Dank! –, in Paris reüssieren zu können. Meine Vermieterin träumt in ihren kühnsten Momenten zwar von neuen Prachtstraßen in Lissabon, gegen das Ausland aber ist sie gefeit, und dies rührt mein Herz.

Ich bewahre von dieser Zeit im Grab des menschlichen Willens die Erinnerung an eine widerwärtige Langeweile und ein paar geistreiche Witze.

Man trägt diese Leute zu Grabe, und bereits auf dem Weg zum Friedhof ist es, als habe man ihre Vergangenheit im Kaffeehaus vergessen, denn dort ist es mit einem Mal still.

… und nie wird die Nachwelt von ihnen erfahren, sie bleiben für immer verborgen unter der schwarzen Masse der Siegesbanner, errungen in ihren wortreichen Schlachten.

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Stolz ist die emotionale Gewißheit eigener Größe. Eitelkeit ist die emotionale Gewißheit, daß andere diese Größe an uns wahrnehmen oder uns zuschreiben. Beide Gefühle stimmen nicht notwendigerweise überein, noch widersprechen sie einander von Natur aus. Sie sind unterschiedlich, doch miteinander vereinbar.

Stolz, frei von Eitelkeit, äußert sich letztendlich als Schüchternheit: Wer sich groß fühlt, aber daran zweifelt, daß andere ihn als groß empfinden, wird sich fürchten, seine Meinung von sich selbst der möglichen Meinung anderer von ihm gegenüberzustellen.

Eitelkeit, frei von Stolz, was selten, aber möglich ist, äußert sich letztendlich durch Kühnheit. Wer sich sicher ist, daß andere ihn wertachten, befürchtet nichts von ihnen. Sowohl körperlicher als auch moralischer Mut kann frei von Eitelkeit sein, nicht aber Kühnheit. Unter Kühnheit verstehe ich das Vertrauen in die eigene Entschlußkraft. Kühnheit bedarf keines körperlichen oder moralischen Mutes, denn diese Wesenszüge sind anderer Art, ihr nicht vergleichbar.

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Schmerzhaftes Intervall

Nicht einmal im Stolz finde ich Trost. Worauf sollte ich auch stolz sein, wenn ich nicht mein eigener Schöpfer bin? Selbst wenn ich etwas an mir hätte, dessen ich mich rühmen könnte, wieviel mehr gäbe es, dessen ich mich schämen müßte.

Ich ruhe in meinem Leben wie in einem Grab. Nicht einmal im Traum bin ich auch nur ansatzweise in der Lage aufzustehen, so sehr bin ich bis in meine Seele hinein außerstande, auch nur eine Anstrengung zu unternehmen.

Die Macher metaphysischer Systeme und […] psychologischer Erklärungen sind noch Neulinge in Sachen Leid, denn was ist systematisieren und erklären, wenn nicht konstruieren und […]? Und was ist all das Ordnen, Klassifizieren, Organisieren, wenn nicht eine unternommene Anstrengung? – und auf welch niederschmetternde Art das Leben!

Nein, ich bin kein Pessimist. Glücklich all jene, die es verstehen, ihr Leid ins Universelle zu erheben. Ich weiß nicht, ob die Welt traurig ist oder willkürlich, nicht einmal das kümmert mich, anderer Leute Leid ist so lästig wie langweilig. Solange sie nicht jammern und weinen, was ich als unangenehm und ärgerlich empfinde, habe ich nicht einmal ein Achselzucken für ihren Schmerz – so tief ist meine Verachtung für sie.

Doch ich möchte an das Leben als etwas gleichermaßen Lichtes wie Dunkles glauben. Ich bin kein Pessimist. Ich beklage mich nicht über das Schreckliche des Lebens. Ich beklage mich über das Schreckliche meines Lebens. Die einzig wichtige Tatsache für mich ist die Tatsache, daß ich existiere und leide und mich nicht ganz und gar aus meinem Gefühl zu leiden herausträumen kann. Alle glücklichen Träumer sind Pessimisten. Sie gestalten die Welt nach ihrem Bild und sind auf diese Weise immer zu Hause. Was mich am tiefsten schmerzt, ist die Ungleichheit zwischen der lärmenden Fröhlichkeit der Welt und meiner Traurigkeit, meinem müden Schweigen.