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Ich kenne kein größeres Vergnügen als das an Büchern, und doch lese ich wenig. Bücher sind Einführungen in Träume, und wer natürlich und ungezwungen mit ihnen ins Gespräch kommt, braucht keine Einführungen. Lesen war für mich ein Sich-Verlieren, beständig meldeten sich Verstand und Vorstellungskraft zu Wort und störten den Erzählfluß. Nach einigen Minuten schrieb stets ich das Buch, und was geschrieben stand, stand nirgendwo.

Meine Lieblingslektüre sind nüchterne Bücher, sie schlafen neben mir auf meinem Nachttisch, und ich lese sie immer wieder. Zwei habe ich stets zur Hand: die Rhetorik von Pater Figueiredo[64]   und die Gedanken zur Portugiesischen Sprache von Pater Freire[65]  . Diese Bücher lese ich immer wieder mit Gewinn; auch wenn ich sie unbestritten schon viele Male gelesen habe, so habe ich ebenso unbestritten keines von beiden je an einem Stück gelesen. Ich verdanke diesen Büchern eine Disziplin, die ich mir selbst kaum zutraue. Sie haben mich gelehrt, objektiv zu schreiben und mich dabei von der Vernunft leiten zu lassen.

Der manierierte und zugleich klösterlich nüchterne Stil Pater Figueiredos ist eine Disziplin, die meinen Verstand aufs höchste erbaut. Die nahezu disziplinlose Weitschweifigkeit Pater Freires unterhält meinen Geist, ohne ihn zu ermüden, sie bildet mich, ohne mich zu beunruhigen. Es sind besonnene, gelehrte Köpfe, die meinem gänzlich fehlenden Bestreben, wie sie oder sonstwer zu sein, Genüge tun.

Ich lese und gebe mich hin, nicht der Lektüre, sondern mir selbst. Ich lese und schlafe ein und folge wie im Traum der Beschreibung der rhetorischen Figuren Pater Figueiredos, und in Märchenwäldern höre ich Pater Freire verkünden, »Magdalena« müsse man sagen, da nur das gemeine Volk »Madalena« sage.

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Ich hasse es zu lesen. Allein der Gedanke an unbekannte Seiten verdrießt mich. Ich kann nur lesen, was ich schon kenne. Mein Kopfkissenbuch ist die Rhetorik von Pater Figueiredo. In ihm lese ich allabendlich zum tausendundersten Mal, in einem makellosen, klösterlichen Portugiesisch, die Beschreibung der rhetorischen Figuren, deren Namen, obschon mehr als tausendmal gelesen, ich nicht zu behalten vermag. Doch wiegt mich die Sprache ein […], und ich schliefe unruhig, fehlten mir die mit c[66]   geschriebenen Jesuitenwörter.

Alles in allem verdanke ich dem Buch Pater Figueiredos, ungeachtet seines übertriebenen Purismus, die relative Sorgfalt, die ich, soweit mir möglich, auf die Sprache verwende, mit der ich mich aufzeichne […]

Und ich lese:

(eine Textstelle von Pater Figueiredo)

»pompös, [leer?] und kalt«

und bin über das Leben hinweggetröstet.

Oder aber:

(eine Texstelle über rhetorische Figuren)

auch im Vorwort zu finden.

Ich übertreibe um nicht einen Deut: ich fühle, was ich sage.

So wie andere in der Bibel lesen können, lese ich in der Rhetorik. Mit dem Vorteil der inneren Ruhe und der mangelnden Gottergebenheit.

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Nichtigkeiten, Banalitäten des Lebens, Belanglosigkeiten des Gewöhnlichen und Alltäglichen – Staub, der mit einem blassen, grotesken Strich das Gemeine und Niedere meiner menschlichen Existenz unterstreicht –, das Kassenbuch, das aufgeschlagen vor meinen Augen liegt und dessen Innenleben von allen Orienten träumt; der harmlose Scherz des Prinzipals, der das gesamte Universum beleidigt; die Bitte an Chef Vasques, das Telefon abzunehmen, seine Freundin will ihn sprechen, Fräulein Soundso – und das, während ich gerade in die asexuellste Stelle einer Theorie des Ästhetischen und Geistigen vertieft bin …

Und dann die Freunde, nette Burschen, wirklich nett, es ist wunderbar, mit ihnen zu reden, zu Mittag zu essen, zu Abend, und doch ist alles so, wie soll ich sagen, schäbig, armselig, klein, ständig im Stoffgeschäft, auch wenn man nicht dort ist, ständig über dem Kassenbuch, auch wenn man dann in der Ferne ist, ständig mit dem Chef zusammen, auch wenn man bereits im Unendlichen ist.

Alle haben einen Chef, der sich auf unpassende Scherze versteht, und eine Seele außerhalb ihres alltäglichen Universums. Alle haben einen Prinzipal und die Freundin des Prinzipals, und das Telefon klingelt im immer ungeeigneten Augenblick, dann, wenn ein wunderbarer Abend anbricht – und die Freundinnen [sich] höflich entschuldigen [?] oder vielmehr durch andere entschuldigen lassen bei dem Freund, der, wie wir alle wissen, chic Tee trinken gegangen ist.

Aber alle, die träumen, selbst wenn sie nicht in einem Büro der Unterstadt träumen und auch nicht über den Büchern eines Stoffgeschäfts – alle haben sie ein Kassenbuch vor sich, sei es die Frau, mit der sie verheiratet sind, sei es die Verwaltung einer Zukunft, die sie geerbt haben, oder was auch immer, sofern es tatsächlich existiert.

Wir alle, die wir träumen und denken, sind Hilfsbuchhalter in einem Stoffgeschäft oder in irgendeinem anderen Geschäft in irgendeiner Unterstadt. Wir führen Buch und erleiden Verluste; wir zählen zusammen und gehen weiter; wir ziehen Bilanz, und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns.

Ich schreibe und lächele bei diesen Worten, doch ist es, als bräche mir gleich das Herz, wie Dinge, die zerbrechen, entzweigehen, in Stücke, in Scherben, Abfall, den der Müllmann mit einer einzigen Bewegung von seiner Schulter auf den ewigen Karren aller Stadtverwaltungen leert.

Und alles wartet, festlich und bereit, auf den König, der kommt, schon naht; der Staub seines Gefolges ist ein neuer Nebel im langsam erwachenden Osten, und schon von fern leuchten die Lanzen in ihrem Morgenrot.

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Trauerzug

Hieratische Gestalten unbekannter Hierarchien harren deiner in Reih und Glied längs der Gänge – Pagen, zart, blond, junge Männer […] im versprengten Aufblitzen nackter Klingen, im flüchtigen Glänzen von Helmen und stolzem Ornat, im dunklen Schimmern matten Goldes und gewirkter Seide.

Alles, was die Phantasie krank macht, das Funebre, das unser Gepränge umflort und auf unseren Siegen lastet, der Mystizismus des Nichts, die Askese der völligen Verneinung.

Nicht die sieben Spannen kalter Erde, die sich schließen über geschlossenen Augen in warmer Sonne und nahe grünem Gras, sondern der Tod, der hinausgeht über unser Leben, der selbst Leben ist – tote Gegenwart in irgendeinem Gott, dem unbekannten Gott der Religion meiner Götter.

Auch der Ganges fließt durch die Rua dos Douradores. Alle Epochen sind versammelt in diesem engen Zimmer – das Gemisch […], die bunte Abfolge von Sitten und Gebräuchen, die Unterschiede zwischen den Völkern, die unendliche Vielfalt der Nationen.

Und hier, in dieser einen Straße, kann ich verzückt auf den Tod warten zwischen Schwertern und Zinnen.

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Reise im Kopf

Von meinem vierten Stock aus, über dem Unendlichen, in der klaren Vertrautheit des anbrechenden Abends, am Fenster vor den aufgehenden Sternen, schweifen, im rhythmischen Einklang mit der sich öffnenden Entfernung, meine Träume hin zu unbekannten, gedachten oder auch nur unmöglichen Ländern.

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Dann scheint von Osten her blond der goldene Mond. Seine Lichtspur auf dem breiten Fluß: Schlangen auf dem Weg zum Meer.

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Auf breiten, exotisch beflaggten Straßen, unter prunkvollen Thronhimmeln an Orten der Rast nahmen in verschwenderischem Atlas und hilflosem Purpur die Imperien ihren Weg in den Tod. Baldachine zogen vorüber. Dem festlichen Geleit öffneten sich düstere Straßen und lichte. Kalt blitzten die Waffen in der quälenden Langsamkeit nutzloser Märsche. Vergessen waren die Gärten vor den Städten, die Wasserspiele, nur Wiederaufnahme noch alles Verlorenen, waren ein fernes Lachen in hellen Erinnerungen, nein, die Statuen längs der Alleen waren stumm, und auch die gelben Reihen konnten den Herbst mit seinen die Gräber säumenden Farben nicht überstrahlen. Hellebarden entschieden über den Glanz von Epochen, grünschwarz waren die Gewänder, blaßviolett, granatrot; verlassen lagen die Plätze, zu viele Fluchten, und nie mehr geht auf den Blumenrabatten, zwischen denen wir gehen, der Schatten der Aquädukte dahin.