Выбрать главу

Manchmal ging es sogar ein wenig zu leicht. Seit Furvain den eigenartigen Aufbau des Epos beherrschte, war er in der Lage, Seite um Seite mühelos und fließend niederzuschreiben, und neigte gelegentlich sogar zu unvermuteten Abschweifungen, die den Gang der eigentlichen Erzählung überlagerten und verzerrten. Wenn dies geschah, hielt er inne, riss die störenden Abschnitte heraus und machte an der Stelle weiter, an der er den Hauptweg verlassen hatte. Er hatte bisher seine Gedichte noch nie überarbeiten müssen. Zuerst erschien es ihm wie eine Verschwendung, denn die verworfenen Zeilen waren in jeder Hinsicht so flüssig und eindrucksvoll wie diejenigen, die er behielt. Doch dann sah er ein, dass Sprachgewalt und Klang nicht mehr als bloßes Zubehör der Sache waren, auf die es eigentlich ankam, ging es doch darum, eine ganz bestimmte Geschichte auf eine Weise zu erzählen, die möglichst deutlich ihre wahre Bedeutung zum Vorschein brachte.

Als er dann die Geschichte des Lord Stiamot zu ihrem Abschluss gebracht hatte, stellte Furvain zu seiner Überraschung fest, dass das Göttliche noch lange nicht mit ihm fertig war. Ohne Pause und sogar ohne sich zu fragen, was er überhaupt tat, zog er einen Strich unter die letzte Zeile der Stiamot-Dichtung und begann sofort mit einem neuen Werk. Es setzte in der Mitte einer Strophe beim dreifachen Reim an, behandelte aber ein früheres, ganz anderes Ereignis. Hier ging es um den Plan Lord Melikands, Angehörige nichtmenschlicher Völker nach Majipoor zu bringen und die noch weitgehend unbevölkerte Welt mit Leben zu füllen.

Er setzte die Arbeit daran einige Tage fort. Doch noch bevor der Melikand-Gesang zu Ende geschrieben war, entdeckte Furvain, dass er bereits an einer Passage schrieb, die wiederum eine ganz andere Geschichte erzählte — es ging um die große Versammlung an den Stangard-Fällen am Glayge, wo Dvorn zum ersten Pontifex von Majipoor gesalbt wurde. In diesem Augenblick erkannte Furvain, dass er nicht einfach nur einen Bericht über die Taten des Lord Stiamot schrieb, sondern eine epische Dichtung, die nicht mehr und nicht weniger als die gesamte Geschichte Majipoors umfassen sollte.

* * *

Es war ein beängstigender Gedanke. Er konnte nicht glauben, dass er der richtige Mann für eine solche Aufgabe war. Sie war viel zu gewaltig für einen Menschen mit seinen bescheidenen Anlagen. Er glaubte die Gestalt zu erkennen, die eine solche Dichtung haben musste, wenn sie von den vielen Jahrtausenden von der Ankunft der ersten Siedler bis zur Gegenwart handeln sollte, und sie war überaus machtvoll. Nicht ein einziger riesiger Bogen, der alles überspannte, sondern eine Reihe atemberaubender Kurven und Schwindel erregender Wendungen, eine Geschichte voller Wandlungen und Veränderungen, in der immer wieder Gegensätze miteinander versöhnt wurden. Wie die ersten idealistischen Kolonisten in Gewalt und Anarchie untergingen, wie sie von Dvorn, dem Gesetzgeber, der später der erste Pontifex werden sollte, gerettet wurden, wie sie sich, als seien sie von einer Zentrifuge in die Weite geschleudert worden, unter der Führung Lord Melikands über die ganze riesige Welt ausbreiteten. Die großen Städte auf dem Burgberg wurden gebaut, die Besiedlung erstreckte sich bis zu den Kontinenten Zimroel und Suvrael, und schließlich kam es zur unausweichlichen, tragischen Auseinandersetzung mit den Ureinwohnern, den Gestaltwandlern. In dem entsetzlichen Krieg, den Lord Stiamot führte, wurden sie schließlich niedergekämpft. Der Mann des Friedens wurde zu einem Mann des Krieges, besiegte die Ureinwohner und sperrte sie ein. Und von da an wurde die Geschichte weiter gesponnen bis zur Gegenwart, da Milliarden von Menschen friedlich auf der schönsten aller Welten lebten.

Es gab keine schönere Geschichte im ganzen Universum. Doch war er, Aithin Furvain, ein Mann mit kleiner Seele, ein in so vielerlei Hinsicht unzulänglicher Mann, wirklich fähig, sie aufzuschreiben? Er machte sich keine Illusionen über sich selbst. Er sah sich als schlagfertig, faul, liederlich, als Schwächling und als jemand, der jeder Verantwortung aus dem Weg ging und der sein ganzes Leben lang immer den Weg des geringsten Widerstandes gegangen war. Wie konnte ausgerechnet er unter all den anderen Menschen, da er doch keine anderen Vorzüge besaß als eine gewisse Wendigkeit und einige unterhaltsame Fertigkeiten, wie konnte er hoffen, ein so gigantisches Thema in den Grenzen eines einzigen Gedichts zu erfassen? Es war zu viel für ihn. Er konnte es einfach nicht tun. Er bezweifelte, dass es überhaupt jemand vermochte. Aber er war ganz gewiss nicht der Richtige, um es zu versuchen.

Und doch schrieb er es irgendwie nieder. Oder schrieb es sich durch ihn? Egal. Das Werk nahm Zeile um Zeile und Tag um Tag Gestalt an. Man mochte es göttliche Inspiration nennen oder auch einen überbordenden Strom von etwas, das ohne sein Wissen schon seit vielen Jahren in ihm aufgestaut gewesen war. Man konnte es nennen wie man wollte, es war nicht zu leugnen, dass er bereits einen ganzen Gesang und Fragmente von zwei weiteren geschrieben hatte und täglich neue Verse zu Papier brachte.

Diese Dichtung besaß Größe, das war ihm bewusst. Er las sie immer wieder durch und schüttelte den Kopf vor Staunen über die Kraft seines eigenen Werks, über die machtvolle Musik der Poesie und den mitreißenden Fluss der Erzählung. So prachtvoll war es, dass es ihn demütig machte und verwirrte. Er hatte keine Ahnung, wie es möglich war, das zu leisten, was er getan hatte, und er schauderte beim Gedanken daran, dass dieser wundersame Quell der Inspiration eines Tages ebenso schnell versiegen konnte, wie er sich aufgetan hatte, noch bevor die große Aufgabe vollendet war.

Das Manuskript, so unvollständig es auch war, wurde ihm ungeheuer wichtig. Er sah es inzwischen als Symbol seiner Unsterblichkeit. Es störte ihn, dass nur das Original existierte, das noch dazu in einem Raum aufbewahrt wurde, der nur von außen verschließbar war. Er hatte Angst, dem Manuskript könne etwas geschehen, es könne etwa verdorben werden, wenn er versehentlich das Tintenfass umkippte, oder es gestohlen, weil ein rücksichtsloser, bösartiger Bewohner der Festung eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit war, die Master Kasinibon von Furvain bekam, oder irgendein unbedarfter Diener könne gar das Werk als Abfall aus dem Zimmer entfernen und vernichten. Deshalb kopierte er es mehrere Male und versteckte die Kopien sorgfältig an verschiedenen Stellen seiner kleinen Suite. Die erste Handschrift versenkte er jeden Abend in der untersten Schublade des Schranks, in dem er seine Kleidung aufbewahrte. Einige Tage später, er wusste selbst nicht den Grund, machte er es sich sogar zur Gewohnheit, die Stifte in einem sternförmigen Muster auf den beschriebenen Blättern anzuordnen, damit er es bemerkte, wenn jemand in dieser Schublade herumschnüffelte.

Noch einmal drei Tage später sah er, dass die Stifte tatsächlich anders lagen. Furvain hatte sie präzise und pedantisch ausgerichtet, und der mittlere Stift bildete immer genau den gleichen Winkel zu den beiden anderen. Dieses Mal aber war der Winkel ein wenig verändert, als habe jemand verstanden, dass die Anordnung zum Entdecken von Eindringlingen gedacht war, habe es jedoch versäumt, die gleiche Genauigkeit wie Furvain walten zu lassen. An diesem Abend wählte er eine neue Figur für die Stifte, und am folgenden Nachmittag sah er, dass sie abermals beinahe, aber doch nicht ganz so, wie er sie angeordnet hatte, wieder hingelegt worden waren.

Dahinter konnte nur Kasinibon selbst stecken, dachte Furvain. Kein Angehöriger von Kasinibons Bande von Gesetzlosen und gewiss kein Diener hätte sich mit den Stiften so viel Mühe gemacht. Er schnüffelt hier herum, während ich nicht im Zimmer bin, dachte Furvain. Er liest heimlich mein Gedicht.

Furvain wandte sich wutentbrannt an Kasinibon und machte ihm Vorhaltungen, weil dieser in seine Privatgemächer eingedrungen war.