»Wir haben es beerdigt«, sagte Morgan.
»Du liebe Güte, das tut mir wirklich Leid«, erwiderte Kaye.
»Es war echt hart«, erklärte Morgan, »aber immerhin, wir leben noch!« Er biss die Zähne zusammen, und seine Kiefer spannten sich wieder rhythmisch an.
»Jayce hätte mir besser nicht erzählt, wie es aussah«, sagte Delia.
»Wenn es Gottes Kind war«, meinte Jayce kühl, »hätte er besser darauf aufpassen sollen.«
Mitch wischte sich mit einem Finger die Augen ab und blinzelte, um die Straße wieder klar zu sehen.
»Warst du beim Arzt?«, erkundigte sich Kaye.
»Mir geht’s gut«, antwortete Delia. »Ich will nur, dass diese Flecken weggehen.«
»Ich sehe sie mir mal aus der Nähe an, Liebes«, sagte Kaye.
»Sind Sie Ärztin?«
»Keine Ärztin, aber Biologin.«
»Eine Wissenschaftlerin?«, fragte Morgan, dessen Interesse jetzt geweckt war.
»Ja, ja«, erwiderte Kaye.
Delia dachte ein paar Sekunden nach und beugte sich dann mit abgewandtem Blick nach vorn. Kaye streichelte ihr Kinn, um sie zu beruhigen. Mittlerweile war die Sonne herausgekommen, aber links zog ein Lieferwagen vorüber, und die breiten Reifen schleuderten einen Wasserschwall gegen die Windschutzscheibe. Das unstete Licht zeichnete einen wechselnden grauen Schimmer auf die Züge des Mädchens.
Das Gesicht trug ein Muster melaninfreier, tropfenförmiger Flecken. Die meisten befanden sich auf den Wangen, aber mehrere symmetrische Bereiche waren auch an den Augen- und Mundwinkeln zu erkennen. Als sie sich von Kaye abwandte, verschoben und verdunkelten sich die Flecken.
»Die sind wie Sommersprossen«, sagte Delia zuversichtlich. »Ich bekomme manchmal Sommersprossen. Ich nehme an, das ist mein weißes Blut.«
69
Athens, Ohio
1. Mai
Mitch und Morgan standen auf der weiß gestrichenen Veranda vor der Praxis von Dr. James Jacobs.
Morgan war aufgeregt. Er zündete sich die letzte Zigarette aus seiner Schachtel an und paffte mit konzentriert verkniffenen Augen. Dann ging er zu einem alten Ahornbaum und lehnte sich gegen die runzelige Rinde.
Nach einer Mittagspause hatte Kaye darauf bestanden, im Telefonbuch einen praktischen Arzt herauszusuchen und Delia untersuchen zu lassen. Das Mädchen hatte widerstrebend zugestimmt.
»Wir haben nichts Ungesetzliches getan«, sagte Morgan. »Wir hatten nur kein Geld, und sie bekam ihr Baby, und wir waren da.«
Er winkte in Richtung der Straße.
»Wo war das?«, fragte Mitch.
»West Virginia. Im Wald in der Nähe einer Farm. Es war schön da. Eine gute Stelle für eine Beerdigung. Wissen Sie, ich bin so müde. Ich habe es satt, dass sie mich wie einen räudigen Hund behandeln.«
»Die Mädchen?«
»Sie kennen doch die allgemeine Meinung«, sagte Morgan.
»Männer sind ansteckend. Sie verlassen sich auf mich, ich bin immer für sie da, und dann sagen sie, ich wäre so ein verlauster Junge. Nie ein Dankeschön.«
»So sind die Zeiten«, sagte Mitch.
»Ist schon beschissen. Warum leben wir jetzt und nicht in einer anderen Zeit, die nicht so beschissen ist?«
Delia hockte im Sprechzimmer auf der Kante des Tisches und ließ die Beine baumeln. Sie hatte einen hinten offenen, mit Blumen bedruckten Kittel an. Jayce saß ihr gegenüber auf einem Sessel und las in einer Broschüre über die Gefahren des Rauchens.
Dr. Jacobs war über sechzig und hager; um seinen hohen, vornehm gewölbten Schädel zog sich ein kurz geschnittener Kranz grauer, dicht gelockter Haare. Seine großen Augen blickten weise und zugleich traurig drein. Er sagte den Mädchen, er sei gleich zurück, und dann ließ er seine Assistentin, eine Frau mittleren Alters mit kastanienbraunem Haarknoten, mit Klemmbrett und Kugelschreiber ins Zimmer kommen. Er schloss die Tür und wandte sich an Kaye.
»Keine Verwandtschaftsbeziehung?«, fragte er.
»Wir haben sie östlich von hier aufgelesen. Ich war der Meinung, sie sollte sich untersuchen lassen.«
»Sie sagt, sie sei neunzehn. Papiere hat sie nicht bei sich, aber ich glaube nicht, dass sie schon so alt ist. Was meinen Sie?«
»Ich weiß nicht viel über sie«, erwiderte Kaye. »Ich will ihnen helfen und sie nicht etwa in Schwierigkeiten bringen.«
Jacobs neigte mitfühlend den Kopf. »Sie hat vor einer Woche bis zehn Tagen entbunden. Keine größeren Verletzungen, aber das Gewebe ist an ein paar Stellen gerissen, und an ihrer Hose klebt noch Blut. Ich sehe nicht gern zu, wenn junge Leute wie Tiere leben, Ms. Lang.«
»Ich auch nicht.«
»Delia sagt, es sei ein Herodes Baby gewesen, und es sei tot zur Welt gekommen. Nach der Beschreibung ein Sekundärfetus. Ich habe keinen Grund, ihr nicht zu glauben, aber solche Sachen sollte man melden. Man hätte das Baby obduzieren müssen. Es werden gerade entsprechende Bundesgesetze verabschiedet, und Ohio schließt sich an … Sie sagt, sie war in West Virginia, als sie entbunden hat. So weit ich weiß, gibt es in West Virginia ziemliche Widerstände.«
»Nur in bestimmter Hinsicht«, sagte Kaye und erzählte ihm von der Vorschrift mit den Blutuntersuchungen.
Jacobs hörte zu, zog dann einen Kugelschreiber aus der Tasche und ließ ihn nervös immer wieder klicken. »Ms. Lang, als Sie heute Nachmittag zu mir kamen, wusste ich nicht genau, wer Sie sind. Ich habe Georgina gebeten, im Internet nach Nachrichtenfotos zu suchen. Ich weiß nicht, was Sie in Athens vorhaben, aber ich nehme an, Sie wissen über das alles mehr als ich.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Kaye. »Die Flecken im Gesicht …«
»Bei manchen Frauen stellen sich während der Schwangerschaft dunkle Verfärbungen ein. Das geht vorüber.«
»Diese hier sehen aber anders aus«, entgegnete Kaye. »Außerdem haben sie uns erzählt, dass sie noch andere Hautprobleme hatte.«
»Ich weiß.« Jacobs seufzte und setzte sich auf die Ecke seines Schreibtisches. »Ich habe hier drei schwangere Patientinnen, wahrscheinlich mit sekundären HerodesFeten. Sie lassen mich weder Fruchtwasseruntersuchungen noch Ultraschallaufnahmen machen.
Alle drei sind treue Kirchgängerinnen, und ich glaube, sie wollen die Wahrheit nicht wissen. Sie haben Angst, und sie stehen unter Druck. Ihre Bekannten schneiden sie. In der Kirche sind sie nicht mehr gern gesehen. Die Ehemänner kommen nicht mit ihnen zu mir in die Praxis.« Er zeigte auf sein Gesicht. »Bei allen verhärtet sich die Haut, und dann löst sie sich um Augen und Nase, an Wangen und Mundwinkeln. Aber sie schält sich nicht … noch nicht. Sie stoßen im Gesicht mehrere Lederhaut- und Epidermisschichten ab.« Er verzog das Gesicht und tat so, als wollte er mit Daumen und Zeigefinger einen Hautlappen abziehen. »Sie fühlt sich ein wenig wie Leder an. Fürchterlich hässlich, sehr beängstigend. Das ist der Grund, warum sie so nervös sind und warum sie gemieden werden. Es trennt sie von ihrem Umfeld, Ms. Lang. Es verletzt sie. Ich habe Berichte an die Staats- und Bundesbehörden geschrieben, aber noch keine Antwort bekommen. Es ist, als riefe man in eine große dunkle Höhle hinein.«
»Glauben Sie, dass die Masken häufig vorkommen?«, wollte Kaye wissen.
»Ich richte mich nach den Grundsätzen der Wissenschaft, Ms.
Lang. Wenn ich es mehrmals beobachte, und wenn dann dieses Mädchen aus einem anderen Bundesstaat kommt und es ebenfalls hat … ich bin sicher, dass es nicht selten ist.« Er sah sie zweifelnd an. »Wissen Sie mehr darüber?«
Sie ertappte sich dabei, dass sie sich wie ein kleines Mädchen auf die Lippe biss. »Ja und nein«, sagte sie. »Ich habe meine Stellung in der HerodesTaskforce aufgegeben.«