»Warum?«
»Das ist eine komplizierte Geschichte.«
»Weil sie dort alle Unrecht haben, stimmt’s?«
Kay wandte den Blick ab und lächelte. »Das würde ich so nicht sagen.«
»Haben Sie so etwas schon einmal gesehen? Bei anderen Frauen?«
»Ich glaube, wir werden es in Zukunft häufiger beobachten.«
»Und die Babys sind kleine Ungeheuer und sterben?«
Kaye schüttelte den Kopf. »Das wird sich wahrscheinlich ändern.«
Jacobs steckte den Kugelschreiber ein, legte die Hand auf die Schreibunterlage, hob ihre Lederecke an und ließ sie langsam wieder sinken. »Ich werde über Delia keinen Bericht verfassen. Ich weiß nicht genau, was oder an wen ich schreiben sollte. Sie wird sicher von hier verschwinden, bevor die Behörden etwas unternehmen und ihr helfen könnten. Ob wir das Kind finden, die Stelle, wo sie es bestattet haben, bezweifle ich. Sie ist erschöpft und muss ständig versorgt werden. Vor allem braucht sie einen Ort, wo sie bleiben und wieder zu Kräften kommen kann. Ich werde ihr eine Vitaminspritze geben; außerdem verschreibe ich ihr Antibiotika und ein Eisenpräparat.«
»Und die Flecken?«
»Wissen Sie, was Chromatophoren sind?«
»Zellen, die ihre Farbe ändern. Bei Tintenfischen.«
»Diese Flecken können ihre Farbe ändern«, erklärte Jacobs. »Es ist nicht nur eine hormonell bedingte Melanose.«
»Melanophoren«, sagte Kaye.
Jacobs nickte. »Das ist das richtige Wort. Haben Sie schon einmal Melanophoren bei einem Menschen gesehen?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Wohin wollen Sie jetzt, Ms. Lang?«
»Ganz weit nach Westen«, erwiderte sie und zückte die Brieftasche. »Ich würde jetzt gern Ihr Honorar bezahlen.«
Jacobs sah sie mit einem Blick an, wie er trauriger nicht sein konnte. »Ich betreibe hier keine blöde Gesundheitsfabrik, Ms.
Lang. Kein Honorar. Ich verschreibe die Tabletten, und Sie holen sie in einer guten Apotheke. Sie besorgen ihr etwas zu essen und suchen einen sauberen Ort, wo sie in Ruhe ausschlafen kann.«
Die Tür ging auf. Delia und Jayce kamen herein. Delia war wieder vollständig angezogen.
»Sie braucht saubere Kleidung und ein heißes Bad in einer richtigen Badewanne«, sagte Georgina resolut.
Zum ersten Mal seit ihrem Zusammentreffen lächelte Delia.
»Ich habe es mir im Spiegel angesehen«, sagte sie. »Jayce meint, die Flecken sind hübsch. Der Arzt sagt, ich bin nicht krank, und wenn ich will, kann ich später Kinder haben.«
Kaye gab Jacobs die Hand. »Vielen herzlichen Dank«, sagte sie.
Als die drei hinaus auf die Veranda zu Mitch und Morgan gingen, rief Jacobs ihnen nach: »Wir leben und wir lernen, Ms. Lang!
Und je schneller wir lernen, desto besser.«
»MINISUITEN« und »50 $« verkündete das kleine Motel in gedrängter Schrift auf einem riesigen, von der Landstraße gut sichtbaren roten Schild. Es hatte sieben Zimmer, und drei davon waren frei. Kaye mietete alle drei und gab Morgan einen Schlüssel. Der nahm ihn, runzelte die Stirn und steckte ihn ein.
»Ich bin nicht gern allein«, sagte er.
»Eine bessere Aufteilung ist mir nicht eingefallen«, sagte Kaye.
Mitch legte dem Jungen den Arm um die Schulter. »Ich bleibe bei dir«, sagte er mit einem ruhigen Blick zu Kaye. »Wir duschen und sehen fern.«
»Es wäre schön, wenn Sie in unserem Zimmer bleiben könnten«, sagte Jayce zu Kaye. »Wir würden uns dann viel sicherer fühlen.«
Die Zimmer waren nicht sonderlich sauber. Über den erkennbar durchgelegenen Betten lagen dünne, abgeschabte Steppdecken mit ausgefransten Nylonfäden und Brandlöchern von Zigaretten. Die Kaffeetischchen trugen viele ringförmige Flecken und ebenfalls Brandspuren. Jayce und Delia begutachteten alles und bezogen das Zimmer, als sei es ein Königspalast. Delia setzte sich auf den einzigen orangefarbenen Sessel neben einer Tischlampe mit mehreren kegelförmigen MetallLampenschirmen. Jayce lümmelte sich auf das Bett und schaltete den Fernseher ein. »Die haben hier PayTV«, sagte sie leise und erstaunt. »Wir können uns einen Spielfilm ansehen!«
Mitch hörte, wie Morgan im Bad ihres gemeinsamen Zimmers duschte, und öffnete die Eingangstür. Draußen stand Kaye mit erhobener Hand — sie wollte gerade klopfen.
»Ein Zimmer ist übrig«, sagte sie. »Da haben wir ja eine ganz schöne Verantwortung übernommen, was?«
Mitch umarmte sie. »Dein Instinkt«, sagte er.
»Und was sagt dir dein Instinkt?«, fragte sie, während sie ihre Nase an seiner Schulter rieb.
»Das sind Kinder. Sie sind schon seit Wochen unterwegs, oder seit Monaten. Man sollte ihre Eltern anrufen.«
»Vielleicht haben sie gar keine richtigen Eltern. Sie sind verzweifelt, Mitch.« Kaye trat zurück und sah ihn an.
»Immerhin sind sie so selbstständig, dass sie ein totes Baby begraben und dann weiterziehen können. Der Arzt hätte die Polizei benachrichtigen sollen.«
»Ich weiß«, sagte Kaye. »Aber ich weiß auch, warum er es nicht getan hat. Die Regeln haben sich geändert. Er glaubt, dass in Zukunft die meisten Kinder tot geboren werden. Sind wir die Einzigen, die noch Hoffnung haben?«
Die Dusche wurde abgedreht, und die Badezimmertür ging auf.
Das kleine Bad war voller Dampf.
»Die Mädchen«, sagte Kaye und ging zur Nachbartür. Sie machte zu Mitch eine Geste mit geöffneter Hand, die er sofort wiedererkannte. Die Demonstranten in Albany hatten sie benutzt, und jetzt begriff er, was sie damit andeuten wollten: den festen Glauben an das Funktionieren des Lebendigen, an die überragende Klugheit des Genoms, und die vorsichtige Unterwerfung darunter.
Keine Prophezeiung des Untergangs, kein dümmlicher Versuch, den Strom der DNA durch die Generationen mit der neu gewonnenen Macht der Menschen aufzuhalten.
Der Glaube an das Leben.
Morgan zog sich schnell an. »Jayce und Delia brauchen mich nicht«, sagte er, als er in dem kleinen Zimmer stand. Jetzt, nachdem er sich gewaschen hatte, waren die Löcher in den Ärmeln seines Pullovers noch deutlicher zu erkennen. Den schmutzigen Anorak hatte er über den Arm gehängt. »Ich will euch nicht zur Last fallen. Ich gehe jetzt. Schönen Dank, aber …«
»Jetzt setz dich mal hin und sei still«, sagte Mitch. »Hier passiert das, was die Dame will. Und die will, dass du bleibst.«
Morgan blinzelte verwundert und setzte sich auf die Bettkante.
Die Sprungfedern quietschten, und das Bettgestell ächzte. »Ich glaube, das ist der Weltuntergang«, sagte er. »Wir haben den lieben Gott echt verärgert.«
»Keine vorschnellen Schlussfolgerungen«, sagte Mitch. »Ob du es glaubst oder nicht: Es war alles schon mal da.«
Jayce schaltete den Fernseher ein und sah sich vom Bett aus das Programm an, während Delia in der abgestoßenen, schmalen Wanne ein langes Bad nahm. Dabei summte sie Melodien aus Comicserien — Scooby Doo, Animaniacs, Inspector Gadget. Kaye saß auf dem einzigen Sessel. Jayce hatte einen alten, beruhigenden Film gefunden: Alle lieben Pollyanna mit Hayley Mills. Karl Malden kniete auf einer ausgedörrten Wiese und machte sich Selbstvorwürfe wegen seiner halsstarrigen Beschränktheit. Es war eine leidenschaftliche Szene — Kaye konnte sich nicht erinnern, dass sie den Film früher so mitreißend gefunden hatte. Zusammen mit Jayce sah sie zu, aber dann merkte sie, dass das Mädchen eingeschlafen war. Sie stellte das Gerät leiser und schaltete zu einer Nachrichtensendung um.
Ein paar oberflächliche Berichte aus dem Showbusiness, eine kurze politische Nachricht über Kongresswahlen, dann ein Interview mit Bill Cosby über seine Werbung für CDC und Taskforce.
Kaye drehte den Fernseher lauter.
»Ich war mit David Satcher befreundet, dem früheren Leiter des Gesundheitswesens. Da muss es eine Art Netzwerk der Ehemaligen geben«, erklärte Cosby der Reporterin, einer blonden Frau mit breitem Lächeln und stechenden blauen Augen. »Die haben mich nämlich schon vor Jahren geholt, so einen alten Knaben, damit ich den Leuten sage, was die da eigentlich tun und was wichtig ist.