Ein Sicherheitsbeamter in Blazer und Golfhemd ging an Dicken vorüber und sah ihn mit jener unbewegten Präzision an, die er längst gewohnt war. Der Präsident, groß und mit der berühmten weißen Mähne, betrat den Raum als Erster. Er wirkte konzentriert, aber ein wenig müde. Dennoch war Dicken von der Macht, die er aufgrund seines Amtes ausstrahlte, überwältigt; er freute sich, dass der Präsident in seine Richtung blickte, ihn erkannte und ihm im Vorübergehen würdevoll zunickte.
Der Gouverneur von Alabama schob seinen Stuhl zurück. Die hölzernen Stuhlbeine schabten über den Fußboden. »Herr Präsident«, sagte der Gouverneur viel zu laut. Der Präsident blieb stehen, um mit ihm zu sprechen; der Gouverneur trat zwei Schritte vor.
Zwei Leibwächter sahen einander an und fuhren herum, um vorsichtig einzugreifen.
»Ich liebe mein Amt, und ich liebe unser großartiges Land, Sir«, erklärte der Gouverneur und schlang die Arme um den Präsidenten, als wollte er ihn in Schutz nehmen.
Der Gouverneur von Florida, der daneben stand, schnitt eine Grimasse und schüttelte peinlich berührt den Kopf.
Die Leibwächter waren keinen Meter entfernt.
Ach, dachte Dicken. Mehr nicht; nur das leere, ahnungsvolle Bewusstsein, in der Zeit zu schweben, der noch unhörbare Pfiff einer Lokomotive, eine noch nicht angezogene Bremse, ein Arm, der sich bewegen will und nur nutzlos am Körper hängt.
Ihm fiel ein, dass er vielleicht Platz machen sollte.
Der blonde junge Mann im schwarzen Mantel trug eine grüne Chirurgenmaske und hielt den Blick gesenkt, während er den Hügel hinauf zu der Windrose ging. Er wurde von drei braun und grün gekleideten Frauen begleitet und trug einen kleinen braunen Stoffbeutel, der mit einer goldenen Schnur zugebunden war. Seine schütteren, fast weißen Haare flatterten im Wind, der auf dem Hügel allmählich auffrischte.
Die Kreise der Männer und Frauen öffneten sich, ließen ihn durch.
Mitch beobachtete das Ganze mit verblüffter Miene. Kaye stand mit verschränkten Armen neben ihm. »Was haben die vor?«, fragte er.
»Eine Art Zeremonie«, erwiderte Kaye.
»Ein Fruchtbarkeitsritual?«
»Warum nicht?«
Mitch grübelte. »Buße«, sagte er. »Es sind mehr Frauen als Männer.«
»Etwa drei zu eins«, bestätigte Kaye.
»Die meisten Männer sind schon älter.«
»QTips.«
»Wie bitte?«
»So nennen jüngere Frauen die Männer, die ihre Väter sein könnten«, erklärte Kaye. »Beispielsweise den Präsidenten.«
»Das ist eine Beleidigung«, sagte Mitch.
»Aber es stimmt«, erwiderte Kaye. »Gib mir nicht die Schuld daran.«
Als die Menge sich wieder zusammendrängte, verschwand der Mann aus ihrem Blickfeld.
Eine große, brennende Hand packte Christopher Dicken und schleuderte ihn nach hinten an die Wand. Sie zerschmetterte seine Trommelfelle und drückte ihm den Brustkorb zusammen. Dann zog sie sich zurück, und er sackte auf den Fußboden. Zuckend öffneten sich seine Augen. Er sah Flammen, die in konzentrischen Kreisen an der zerborstenen Decke entlang liefen, und Fliesen, die durch das Feuer fielen. Er war von Blut und Fleischfetzen bedeckt.
Weißer Rauch und Hitze brannten ihm in den Augen, sodass er sie schließen musste. Er konnte nicht atmen, konnte nicht hören, konnte sich nicht bewegen.
Leise und monoton begann der Gesang. »Gehen wir«, sagte Mitch zu Kaye.
Sie blickte zurück zu der Menge. Jetzt hatte auch sie den Eindruck, dass etwas nicht stimmte. Ihre Nackenhaare sträubten sich.
»Na gut«, sagte sie.
Sie schlugen auf einem Fußweg einen Bogen und stiegen dann am nördlichen Abhang den Hügel hinunter. Dabei kamen sie an einem Mann und seinem Sohn vorüber; der Junge, fünf oder sechs Jahre alt, hielt einen Drachen in seinen kleinen Händen. Kaye bemerkte die eleganten Mandelaugen des Kleinen, seinen länglichen, kurz geschorenen Kopf, der ägyptisch aussah wie eine wunderschöne, wieder zum Leben erweckte antike Ebenholzstatue, und dachte: Was für ein schönes, gesundes Kind. Was für ein schöner kleiner Junge.
Ihr fiel das kleine Mädchen ein, das in Gordi am Straßenrand gestanden hatte, als die UNKarawane die Stadt verließ; sie hatte ganz anders ausgesehen und bei ihr dennoch ganz ähnliche Gedanken geweckt.
Gerade als sie nach Mitchs Hand griff, begann das Sirenengeheul. Sie blickten nach Norden zum Parkplatz und sahen fünf Polizeiwagen, die quietschend zum Stehen kamen. Die Türen gingen auf, Polizisten stiegen aus, rannten zwischen den geparkten Autos hindurch und über die Wiese den Hügel hinauf.
»Sieh mal«, sagte Mitch und zeigte auf einen einsamen Mann mittleren Alters in Shorts und Sweatshirt, der in ein Handy sprach. Der Mann sah verängstigt aus. »Was ist denn jetzt los?«, fragte Kaye.
Die monotonen Gebete waren lauter geworden. Drei Polizisten rannten an Kaye und Mitch vorüber, die Pistolen noch im Halfter, aber einer hatte den Schlagstock gezogen. Sie drängten sich zwischen den äußeren Menschenkreisen hindurch zum Gipfel des Hügels.
Frauen schrien ihnen Schimpfworte entgegen. Sie kämpften mit den Polizisten, schlugen, traten, kratzten, versuchten sie zurückzuhalten.
Kaye konnte nicht fassen, was sie hier sah und hörte. Zwei Frauen sprangen auf einen der Männer zu und überschütteten ihn mit obszönen Worten.
Der Polizist mit dem Schlagstock setzte die Waffe jetzt ein, um seine Kollegen zu schützen. Kaye hörte das Übelkeit erregende Klatschen von schwerem Kunststoff auf Fleisch und Knochen.
Sie wollte wieder den Hügel hinaufgehen, aber Mitch hielt sie am Arm fest.
Immer mehr Polizisten stürzten sich schlagstockschwingend in die Menge. Der Gesang erstarb. Die Menge schien jeden Zusammenhalt zu verlieren. Frauen in langen Mänteln lösten sich aus der Masse, die Hände vor Wut und Angst vor das Gesicht geschlagen, schreiend, weinend, die Stimmen schrill und panisch. Manche brachen zusammen und trommelten mit den Fäusten auf das spärliche gelbe Gras. Aus ihren Mündern sickerte der Speichel.
Ein Mannschaftswagen der Polizei raste mit jaulendem Motor über den Bordstein und die Wiese. Zwei Polizistinnen sprangen heraus und mischten sich unter die Meute.
Mitch zog Kaye die Anhöhe hinunter; schließlich waren sie unten, den Blick immer noch auf die Menschen gerichtet, die sich um die Sonnenuhr drängten. Zwei Polizisten schoben sich mit dem jungen Mann in Schwarz durch die Menge. Er hatte rote, tropfende Schnittwunden an Hals und Händen. Eine Polizistin verlangte über ihr Funkgerät nach einem Krankenwagen. Sie ging wenige Meter an Mitch und Kaye vorüber, das Gesicht bleich und die Lippen gerötet vor Wut.
»Verdammt noch mal«, schrie sie den Umstehenden zu, »warum haben Sie nicht versucht, das zu verhindern?«
Weder Kaye noch Mitch wussten eine Antwort.
Der junge Mann mit dem schwarzen Mantel stolperte und stürzte zwischen den beiden Polizisten, die ihn stützten. Flüchtig war sein von Schmerzen und Schock verzerrtes Gesicht zu sehen, das sich kalkweiß, wie die Wolken, gegen die festgestampfte Erde und das gelbliche Gras abhob.
73
Seattle
Mit Mitch am Steuer fuhren sie die Autobahn nach Süden, zum Capitol Hill. Dann bogen sie in östlicher Richtung nach Denny ab. Der Buick schleppte sich die Steigung hinauf.
»Es wäre mir lieber, wir hätten das nicht gesehen«, sagte Kaye.
Mitch fluchte halblaut. »Wir hätten besser gar nicht erst angehalten.«
»Sind denn alle verrückt geworden? Langsam wird es mir zu viel«, erwiderte Kaye. »Ich weiß nicht mehr, wo wir in all dem eigentlich stehen.«
»Wir fallen zurück in alte Verhaltensweisen«, erklärte Mitch.