»Wie in Georgien.« Kaye presste einen Fingerknöchel gegen Lippen und Zähne.
»Es ist entsetzlich, wenn Frauen Männern Vorwürfe machen«, sagte Mitch. »Ich finde das zum Kotzen.«
»Ich mache niemandem Vorwürfe«, erwiderte Kaye, »aber du musst doch zugeben, dass es eine natürliche Reaktion ist.«
Mitch warf ihr einen Blick zu, den man fast wütend nennen konnte. Es war das erste Mal, dass er sie so ansah. Voller Schuldgefühle und Traurigkeit holte sie leise Luft, wandte sich ab und blickte aus dem Beifahrerfenster auf den langgestreckten Broadway: Backsteinhäuser, Fußgänger, junge Männer mit grünen Masken in Begleitung anderer Männer und Frauen, die neben Frauen gingen.
»Vergessen wir’s«, sagte Mitch, »und ruhen wir uns ein bisschen aus.«
Die Wohnung im ersten Stock, ordentlich und kühl und ein wenig staubig nach Mitchs langer Abwesenheit, ging auf den Broadway hinaus und bot Aussicht auf die Backsteinfront des Postamtes, eine kleine Buchhandlung und ein thailändisches Restaurant. Als Mitch das Gepäck hineintrug, entschuldigte er sich für eine Unordnung, die in Kayes Augen nicht existierte.
»Junggesellenbude«, sagte er. »Ich weiß gar nicht, warum ich den Mietvertrag verlängert habe.«
»Es ist hübsch«, erwiderte Kaye und ließ die Finger über das dunkle Holz der Fensterbank und die weiß getünchte Wand gleiten. Das Wohnzimmer war von der Sonne erwärmt und roch ein wenig muffig — nicht unangenehm, nur ungelüftet. Nicht ohne Schwierigkeiten öffnete Kaye das Fenster. Mitch stand neben ihr und machte es behutsam wieder zu. »Abgase von der Straße«, erklärte er. »Das Schlafzimmerfenster ist auf der Rückseite des Hauses. Da kommt frische Luft rein.«
Kaye hatte sich vorgestellt, ihre ersten Gefühle in Mitchs Wohnung würden romantisch und angenehm sein, und sie werde eine Menge über ihn erfahren. Aber hier war alles so adrett, so sparsam möbliert, dass sie eine gewisse Enttäuschung empfand. Sie sah sich die Bücher in dem deckenhohen Regal neben der Kochnische an: Lehrbücher über Anthropologie und Paläontologie, ein paar verschlissene biologische Werke, eine Kiste mit wissenschaftlichen Zeitschriften und Fotokopien. Keine Romane.
»Das thailändische Restaurant ist gut«, sagte Mitch und legte die Arme um sie, während sie vor dem Bücherregal stand.
»Ich habe keinen Hunger. Hier hast du also deine Forschungen betrieben?«
»Genau hier. Ein Geistesblitz. Du warst meine Inspiration.«
»Danke schön«, sagte sie.
»Machen wir einfach nur eine kleine Mittagspause? Im Kühlschrank ist Bier …«
»Budweiser?«
Mitch grinste.
»Ich nehme eins«, sagte Kaye. Er ließ sie los und kramte im Kühlschrank.
»Mist. Es muss einen Stromausfall gegeben haben. Im Gefrierschrank ist alles aufgetaut …« Ein kühler, fauliger Geruch drang aus der Küche. »Aber das Bier ist noch gut.« Er brachte ihr eine Flasche und schraubte energisch den Verschluss ab. Kaye nahm sie und trank einen Schluck. Kaum Geschmack. Keine Linderung.
»Ich muss zur Toilette«, sagte Kaye. Sie fühlte sich taub, weit weg von allem, was wichtig war. Sie nahm die Handtasche mit ins Badezimmer und holte den Schwangerschaftstest heraus. Er war so schön einfach: zwei Tropfen Urin auf einen Teststreifen, blau für positiv, rosa für negativ. Ergebnis in zehn Minuten.
Plötzlich wollte sie es unbedingt wissen.
Das Bad war makellos sauber. »Was kann ich für ihn tun?«, fragte sie sich. »Er führt hier sein eigenes Leben.« Aber dann schob sie den Gedanken beiseite, klappte die Brille herunter und setzte sich.
Mitch hatte mittlerweile im Wohnzimmer den Fernseher eingeschaltet. Durch die alte, massive Kiefernholztür hörte Kaye gedämpfte Stimmen; vereinzelt konnte sie ein paar Worte verstehen.
»… auch der Minister wurde bei der Explosion verletzt …«
»Kaye!«, rief Mitch.
Sie deckte ein Papiertuch über den Streifen und öffnete die Tür.
»Der Präsident«, sagte Mitch mit entsetzter Miene. Er hieb mit den Fäusten in die Luft. »Hätte ich bloß nicht das blöde Ding angemacht!«
Kaye blieb im Wohnzimmer vor dem kleinen Fernseher stehen und blickte gebannt auf Kopf und Schultern der Sprecherin, die Bewegungen ihrer Lippen, die an einem Auge verwischte Schminke.
»Bisher wurden sieben Tote gezählt, darunter die Gouverneure von Florida, Mississippi und Alabama, der Präsident, ein Sicherheitsbeamter und zwei noch nicht identifizierte Personen. Zu den Überlebenden gehören die Gouverneure von New Mexico und Arizona, der Leiter der HerodesTaskforce Mark Augustine und Frank Shawbeck von den National Institutes of Health. Der Vizepräsident hielt sich zur fraglichen Zeit nicht im Weißen Haus auf …«
Mitch stand mit hängenden Schultern neben ihr.
»Wo war Christopher?«, fragte Kaye mit erstickter Stimme.
»Bisher gibt es keine Erklärung, wie eine Bombe trotz schärfster Sicherheitsmaßnahmen ins Weiße Haus geschmuggelt werden konnte. Wir schalten jetzt zu Frank Sesno vor dem Weißen Haus.«
Kaye befreite sich aus Mitchs Arm. »Entschuldigung«, sagte sie, »Ich muss noch mal ins Badezimmer.«
»Fehlt dir etwas?«
»Mir geht’s gut.« Sie schloss die Tür und verriegelte sie, holte tief Luft und nahm das Papiertuch weg. Die zehn Minuten waren vorüber.
»Fehlt dir auch ganz sicher nichts?«, rief Mitch von draußen.
Kaye hielt den Streifen gegen das Licht und betrachtete die beiden ersten Testfelder. Das erste war blau. Das zweite war blau. Sie las sich noch einmal die Gebrauchsanleitung durch, verglich die Farben und lehnte sich mit dem Ellenbogen gegen die Tür. Ihr war schwindlig.
»Es ist passiert«, sagte sie leise. Sie richtete sich auf und dachte: Es sind entsetzliche Zeiten. Warte noch. Warte noch, wenn es irgendwie geht.
»Kaye!« Mitchs Stimme klang fast panisch. Er brauchte sie, brauchte ein wenig Geborgenheit. Sie beugte sich über das Waschbecken, konnte sich kaum aufrecht halten, so stark war die Mischung aus Entsetzen, Erleichterung und Staunen über das, was sie getan hatten, was die Welt tat.
Sie öffnete die Tür und sah, dass Mitch Tränen in den Augen hatte.
»Dabei habe ich ihn nicht mal gewählt«, sagte er mit bebenden Lippen.
Kaye nahm ihn fest in die Arme. Der Tod des Präsidenten war bedeutsam, wichtig, folgenschwer, aber das konnte sie bisher nicht empfinden. Ihre Gefühle waren woanders — bei Mitch, bei seiner Mutter, seinem Vater, ihren eigenen abwesenden Eltern; sogar für sich selbst spürte sie eine gewisse Besorgnis, aber seltsamerweise keine richtige Verbindung zu dem Leben in ihrem Inneren.
Noch nicht.
Es war noch nicht das richtige Baby.
Noch nicht.
Du darfst es nicht lieben. Dieses hier darfst du nicht lieben. Liebe nur das, was es tut, was es in sich trägt.
Während sie Mitch festhielt und seinen Rücken tätschelte, wurde sie ohnmächtig. Mitch trug sie ins Schlafzimmer und brachte ihr ein feuchtes Tuch.
Eine Zeit lang trieb sie in einsamer Dunkelheit, aber dann wurde ihr bewusst, dass sie einen trockenen Mund hatte. Sie räusperte sich und öffnete die Augen.
Sie sah ihren Mann an und versuchte seine Hand zu küssen, während er mit dem Tuch über ihre Wangen und das Kinn strich.
»So dumm«, sagte sie.
»Ich?«
»Ich. Ich dachte, ich sei stark.«
»Du bist stark.«
»Ich liebe dich.« Mehr brachte sie nicht heraus.
Mitch sah, dass sie fest schlief. Er breitete die Bettdecke über sie, schaltete das Licht aus und ging wieder ins Wohnzimmer. Die Wohnung wirkte jetzt ganz anders. Die sommerliche Dämmerung fiel durch die Fenster und warf eine märchenhafte Blässe auf die gegenüberliegende Wand. Er setzte sich in den verschlissenen Sessel vor dem Fernseher, dessen leise gestellter Ton in dem stillen Zimmer dennoch deutlich zu hören war.