»Gouverneur Harris hat den Notstand ausgerufen und die Nationalgarde mobilisiert. Für Werktage ab neunzehn Uhr sowie samstags und sonntags ab siebzehn Uhr wurde eine Ausgangssperre verhängt. Sollte auf Bundesebene das Kriegsrecht in Kraft gesetzt werden, was der Vizepräsident vermutlich schon sehr bald tun wird, sind im ganzen Land Versammlungen an öffentlichen Plätzen nur noch mit einer Sondererlaubnis der Notstandsbehörden in den einzelnen Gemeinden gestattet. Der staatlich erklärte Notstand ist zeitlich nicht befristet; es handelt sich nach offiziellen Angaben einerseits um eine Reaktion auf die Lage in der Bundeshauptstadt, andererseits aber auch um den Versuch, die fortgesetzten, ungewöhnlichen Unruhen im Staat Washington unter Kontrolle zu bringen …«
Mitch klopfte sich mit dem PlastikTeststreifen ans Kinn. Er schaltete von einem Kanal zum anderen, nur um sich das Gefühl zu verschaffen, er habe etwas unter Kontrolle.
»… ist tot. Der Präsident und fünf von zehn Gouverneuren der Bundesstaaten wurden heute Morgen im Lageraum des Weißen Hauses getötet …«
Wieder drückte er die Taste auf der kleinen Fernbedienung.
»… der Gouverneur von Alabama, Abraham C. Darzelle, Anführer der so genannten Bundesstaatenrevolte, umarmte den Präsidenten der Vereinigten Staaten unmittelbar vor der Explosion.
Sowohl die Gouverneure von Alabama und Florida als auch der Präsident selbst wurden durch die Detonation in Stücke gerissen …«
Mitch schaltete den Fernseher aus. Er brachte den Plastikstreifen wieder ins Badezimmer, ging zum Bett und legte sich neben Kaye.
Um sie nicht zu stören, zog er weder die Bettdecke zurück, noch entkleidete er sich. Er warf nur die Schuhe von sich, rollte sich zusammen, wobei er ein Bein sanft über ihre zugedeckten Schenkel legte, und steckte die Nase in ihre kurzen braunen Haare. Der Duft von Kayes Kopfhaut war beruhigender als jedes Schlafmittel.
Für einen viel zu kurzen Augenblick war die ganze Welt wieder klein und warm und völlig ausreichend.
TEIL 3
Stella Nova
74
Seattle
Juni
Kaye ordnete ihre Papiere auf Mitchs Schreibtisch und griff nach dem Manuskript für Die Bibliothek der Königin. Vor drei Wochen hatte sie sich entschlossen, ein Buch über SHEVA zu schreiben, über moderne Biologie, über alles, was die Menschheit nach ihrer Überzeugung in den kommenden Jahren wissen musste. Der Titel bezeichnete ihre Metapher für das Genom mit allen seinen Umwälzungen, beweglichen Elementen und egoistischen Mitspielern, die mit einer Seite ihres Wesens der Genomkönigin zu Diensten waren, weil sie im eigenen Interesse darauf hofften, in die Bibliothek der Königin, die DNA, aufgenommen zu werden; manchmal aber zeigten sie auch ihr zweites Gesicht, nahmen eine mehr egoistische als nützliche Rolle an, wurden zu Parasiten oder Räubern, und dann verursachten sie Probleme oder sogar Katastrophen … eine politische Metapher, die jetzt ganz und gar zutreffend erschien.
In den letzten beiden Wochen hatte sie auf ihrem Laptop hundertsechzig Seiten geschrieben und auf einem tragbaren Drucker ausgedruckt, unter anderem, um ihre Gedanken vor der Tagung zu ordnen.
Und um die Zeit zu vertreiben. Wenn Mitch weg ist, ziehen sich die Stunden manchmal in die Länge.
Sie stieß die Papiere auf der Tischplatte zusammen, freute sich über das handfeste Geräusch und legte den Stapel vor das Foto von Christopher Dicken, das in einem kleinen silbernen Rahmen neben den Porträts von Sam und Abby stand. Das letzte Bild in der Kiste mit ihren persönlichen Gegenständen war ein schwarzweißes Hochglanzfoto von Saul, das ein Profifotograf auf Long Island aufgenommen hatte. Saul sah darauf leistungsfähig, fröhlich, selbstbewusst und klug aus. Abzüge des Bildes hatten sie mit dem Geschäftsprospekt von EcoBacter verschickt, um Risikokapitalfirmen anzulocken. Das war über fünf Jahre her — eine Ewigkeit.
Kaye hatte kaum einmal an ihre Vergangenheit gedacht und nur wenige Erinnerungsstücke gesammelt. Das bereute sie jetzt. Sie wollte ihrem Kind einen Eindruck davon vermitteln, wie es früher gewesen war. Wenn sie sich im Spiegel betrachtete, wirkte sie in ihrer Gesundheit und Lebenskraft fast wie ein junges Mädchen.
Die Schwangerschaft stand ihr ausgesprochen gut.
Als könnte sie vom Schreiben und Aufzeichnen nicht genug bekommen, hatte sie vor drei Tagen ein Tagebuch begonnen, das erste, das sie jemals geführt hatte.
10. Juni
Die ganze letzte Woche haben wir uns auf die Konferenz vorbereitet und nach einem Haus gesucht. Die Zinssätze sind nach oben geschossen und liegen jetzt bei einundzwanzig Prozent, aber wir können uns etwas Größeres als die Wohnung leisten, und Mitch ist nicht besonders wählerisch. Ich schon. Mitch schreibt langsamer als ich, aber er berichtet über die Mumien und die Höhle. Eine Seite nach der anderen schickt er an Oliver Merton in New York, und der redigiert es, manchmal ganz schön grausam. Mitch trägt es mit Fassung und versucht dazuzulernen. Wir sind zu Büchermenschen und Nabelbeschauern geworden, fast ein wenig egozentrisch, weil wir kaum etwas anderes haben, womit wir uns beschäftigen könnten.
Heute Nachmittag ist Mitch beim neuen Direktor des Hayer Institute — er hofft auf eine Wiedereinstellung. (Er entfernt sich nie weiter als zwanzig Autominuten von der Wohnung, und vorgestern haben wir ein zweites Handy gekauft. Ich sage ihm, dass ich selbst auf mich auffassen kann, aber er macht sich ständig Sorgen.) Professor Brock hat ihm geschrieben, worum es derzeit in der Auseinandersetzung geht. Brock ist in mehreren Talkshows aufgetreten. Auch ein paar Zeitungen haben über die Sache berichtet, und Menons Artikel in »Nature« hat viel Aufmerksamkeit und Kritik auf sich gezogen.
In Innsbruck werden die Gewebeproben immer noch unter Verschluss gehalten, und man gibt dort weder Kommentare noch Material ab, aber Mitch bearbeitet seine Bekannten an der University of Washington, damit sie mit ihrem Wissen an die Öffentlichkeit gehen und die Geheimnistuerei der Leute in Innsbruck unterlaufen. Nach Menons Ansicht bleiben den Gradualisten, die für die Mumien verantwortlich sind, noch zwei oder drei Monate; dann müssen sie ihre Berichte schreiben und veröffentlichen, sonst wird man sie durch eine objektivere Arbeitsgruppe ersetzen — jedenfalls hofft Brock das, und mit Sicherheit hofft er, dass er dann die Leitung übernehmen kann.
Mitch könnte auch zu der Arbeitsgruppe gehören, aber das wäre zu schön, um wahr zu sein.
Merton und Daney haben von der New Yorker Notstandsverwaltung keine Genehmigung bekommen, die Tagung in Albany abzuhalten. Irgendwas von 1845 und Gouverneur Silas Wright und Mieteraufständen; man möchte nicht, dass sich so etwas während des »Experiments« mit den »vorübergehenden« Notstandsgesetzen wiederholt.
Über Maria Konig von der University of Washington haben wir uns an die Notstandsverwaltung des Staates Washington gewandt; dort hat man eine zweitägige Konferenz in der Kane Hall mit maximal hundert Teilnehmern genehmigt, die alle von der Behörde überprüft werden müssen. Die Grundrechte sind nicht ganz in Vergessenheit geraten, aber doch ziemlich. Das Wort »Kriegsrecht« nimmt niemand in den Mund, und die Zivilgerichte arbeiten auch in vollem Umfang weiter, aber nur mit Genehmigung der Behörden in den einzelnen Bundesstaaten.
So etwas hat es seit 1942 nicht gegeben, sagt Mitch. Mir ist es richtig unheimlich: Ich bin gesund, unternehmungslustig, energiegeladen, und ich sehe kaum wie eine Schwangere aus. Die Hormone sind die gleichen, ihre Auswirkungen sind die gleichen.