Sie kann jetzt jeden Tag ihre Fehlgeburt bekommen.«
Dicken wandte sich ab.
»Sie sponsert eine Tagung im Staat Washington. Wir haben versucht, bei der Notstandsverwaltung ein Verbot durchzusetzen …«
»Eine wissenschaftliche Tagung?«
»Noch mehr Gefasel über Evolution. Und natürlich Ermutigung für noch mehr Mütter. Für die öffentliche Meinung könnte es eine Katastrophe werden, ganz schlecht für die Moral. Die Presse kontrollieren wir nicht, Christopher. Glauben Sie, dass sie in der Frage extreme Ansichten vertreten wird?«
»Nein«, erwiderte Dicken. »Ich denke, sie wird sehr vernünftig sein.«
»Das ist unter Umständen noch schlimmer«, sagte Augustine.
»Aber wir können es auch gegen sie verwenden, wenn sie sich auf wissenschaftliche Begründungen beruft. Da bewegt sich die Wissenschaft auf dünnem Eis. Mitch Rafelson hat einen katastrophalen Ruf.«
»Er ist ein anständiger Bursche«, sagte Dicken.
»Er ist eine Belastung, Christopher. Aber glücklicherweise nicht für uns, sondern für sie.«
76
Seattle
10. August
Kaye nahm den gelben Schreibblock aus dem Schlafzimmer mit in die Küche. Mitch war seit morgens um neun an der University of Washington. Am Hayer Museum hatte man auf seinen Besuch zunächst negativ reagiert: Man war dort nicht an Auseinandersetzungen interessiert, ganz gleich, wie stark Brock oder andere Wissenschaftler ihn unterstützten. Man hatte ihn ausdrücklich darauf hingewiesen, Brock selbst sei ja ebenfalls umstritten, und ungenannten Quellen zufolge sei er aus der Neandertalerforschung an der Universität Innsbruck »entlassen« oder sogar »entfernt« worden.
Kaye hatte akademische Personalpolitik immer verabscheut. Sie platzierte den Block und ein Glas Orangensaft auf dem kleinen Tisch neben Mitchs abgeschabtem Sessel und ließ sich dann mit einem leisen Stöhnen hineinfallen. Nachdem ihr heute Morgen nichts mehr eingefallen war und sie nicht wusste, wie sie ihr Buch fortsetzen sollte, hatte sie sich an einen kurzen allgemeinen Aufsatz gemacht, den sie vielleicht in zwei Wochen bei der Tagung verwenden konnte …
Aber auch dabei war sie plötzlich stecken geblieben. Geistige Anregung kam gegen das Gefühl einer seltsamen Verknotung in ihrem Bauch einfach nicht an.
Es waren jetzt fast neunzig Tage. Am Abend zuvor hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben: »Jetzt ist es schon ungefähr so groß wie eine Maus.« Mehr nicht.
Mit Mitchs Fernbedienung schaltete sie den alten Fernseher ein.
Gouverneur Harris gab wieder einmal eine Pressekonferenz. Jeden Tag berichtete er in immer neuen Sendungen über die Notstandsgesetze, die Zusammenarbeit zwischen dem Staat Washington und Washington, D. C. seinen Widerstand gegen diese oder jene Maßnahme — er widersetzte sich vielem, ganz im Sinne der Individualisten östlich der Cascade Mountains —, und dann erklärte er sehr genau, wo Zusammenarbeit nach seiner Überzeugung notwendig und lebenswichtig war. Wieder einmal betete er die düstere Litanei einer Statistik herunter.
»Im Nordwesten, von Oregon bis nach Idaho, hat es nach Berichten der Aufsichtsbehörden mindestens dreißig Fälle von Menschenopfern gegeben. Nehmen wir dies zu den schätzungsweise zweiundzwanzigtausend Fällen von Gewalt gegen Frauen im ganzen Land hinzu, erscheint die Ausrufung des Notstandes längst überfällig. Wir sind ein Gemeinwesen, ein Staat, eine Region, eine Nation, die vor Kummer außer Kontrolle geraten ist und durch eine unbegreifliche höhere Gewalt in Panik versetzt wurde.«
Kaye strich sich sanft über den Bauch. Harris hatte eine unlösbare Aufgabe. Die stolzen Bürger der Vereinigten Staaten nehmen eine sehr chinesische Haltung ein, dachte sie. Nachdem ihnen die Gunst des Himmels so offensichtlich entzogen wurde, ließ auch ihre Unterstützung für jegliche Regierungen und Behörden drastisch nach.
Auf die Pressekonferenz des Gouverneurs folgte eine Diskussion mit zwei Wissenschaftlern und einem Vertreter des Bundesstaates.
Sie kamen auf SHEVAKinder als Krankheitsüberträger zu sprechen; es war schierer Unsinn, den sie nicht hören wollte oder musste. Sie schaltete den Fernseher aus.
Das Handy summte. Kaye klappte es auf. »Hallo?«
»Hallo mein Schatz … Hier bei mir sitzen Wendell Packer, Maria Konig, Oliver Merton und Professor Brock, alle in einem Zimmer.«
Beim Klang von Mitchs Stimme erwärmte und entspannte sich Kayes Gesicht.
»Sie hätten dich gern hier.«
»Nur wenn sie bereit sind, sich als Hebammen zu betätigen.«
»Du liebe Güte — spürst du schon was?«
»Nur einen verdorbenen Magen«, sagte Kaye. »Ich bin unglücklich und ohne Inspiration. Nein, ich glaube, heute ist es noch nicht so weit.«
»Na gut, vielleicht inspiriert dich das«, erwiderte Mitch. »Sie werden mit ihrer Analyse der Innsbrucker Gewebeproben an die Öffentlichkeit gehen. Und sie werden auf der Tagung Vorträge halten. Packer und Konig stehen auf unserer Seite.«
Kaye schloss für kurze Zeit die Augen, um die Neuigkeit zu genießen. »Und ihre Fakultäten?«
»Von denen ist überhaupt nichts zu erwarten. Der politische Druck auf die Fakultätsleitungen ist einfach zu groß. Aber Maria und Wendell werden ihre Kollegen bearbeiten. Wir würden heute Abend gern zusammen essen. Hast du Lust?«
Ihr rebellierender Magen hatte sich beruhigt. In etwa einer Stunde könnte ich richtig Hunger bekommen, dachte Kaye. Sie hatte Maria Konigs Arbeiten seit Jahren verfolgt und hegte gewaltige Bewunderung für sie. Aber Konigs größtes Plus in ihrer Männerarbeitsgruppe bestand darin, dass sie eine Frau war.
»Wo gehen wir essen?«
»Das Lokal liegt etwa fünf Minuten vom Marine Pacific Hospital«, sagte Mitch. »Mehr weiß ich auch nicht.«
»Für mich vielleicht einen Teller Haferschleim«, erwiderte Kaye.
»Soll ich den Bus nehmen?«
»Unsinn. Ich bin in ein paar Minuten bei dir.« Mitch gab ihr durch das Telefon einen Kuss, und dann wollte Oliver Merton noch etwas sagen.
»Wir haben uns noch nicht näher kennen gelernt«, sagte er atemlos, als habe er gerade laut gestritten oder eine Treppe im Laufschritt hinter sich gebracht. »Du liebe Güte, Ms. Lang, es macht mich schon nervös, mit Ihnen zu sprechen.«
»In Baltimore haben Sie mir ganz schön zugesetzt«, sagte Kaye.
»Ja, aber das ist lange her«, erwiderte Merton ohne jeden Anflug von Bedauern. »Ich kann ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich Ihre und Mitchs Pläne bewundere. Ich bin ganz platt vor Staunen.«
»Wir tun doch nur etwas ganz Natürliches.«
»Begraben wir die Vergangenheit«, schlug Merton vor. »Ms.
Lang, ich bin ihr Freund.«
»Das werden wir ja sehen«, erwiderte Kaye.
Merton lachte in sich hinein und übergab den Hörer wieder an Mitch.
»Maria Konig schlägt ein Restaurant mit guter vietnamesischer Küche vor. Darauf hatte sie immer Lust, als sie schwanger war.
Klingt doch gut, oder?«
»Nach dem Haferschleim«, erwiderte Kaye. »Muss Merton dabei sein?«
»Nicht, wenn du etwas dagegen hast.«
»Sag’ ihm, ich werde ihn mit Blicken durchbohren. Lass’ ihn leiden.«
»Mache ich«, sagte Mitch, »aber er blüht bei Kritik erst richtig auf.«
Als sie im Restaurant zusammensaßen, sagte Maria Konig, »Ich analysiere jetzt schon seit zehn Jahren das Gewebe von Toten.
Wendell kennt das Gefühl.«
»Allerdings«, sagte Packer.
Konig, die Kaye gegenübersaß, war mehr als nur schön — sie war das vollkommene Vorbild: So wollte Kaye aussehen, wenn sie fünfzig war. Auch Wendell Packer war auf seine Weise attraktiv — schlank, schmal, das genaue Gegenteil von Mitch. Brock, in eine graue Jacke und ein schwarzes TShirt gekleidet, sah elegant und zurückhaltend aus; er schien gedanklich völlig abwesend zu sein.