»Jeden Tag bringt einem der Kurierdienst ein Päckchen, oder auch zwei oder drei«, sagte Maria. »Man macht es auf, und dann sind kleine Glasröhrchen oder Flaschen aus Bosnien oder Osttimor oder dem Kongo drin, und man hat wieder einmal ein trauriges kleines Haut- oder Knochenstückchen von einem meist unschuldigen Opfer vor sich, und dazu einen Umschlag mit fotokopierten Berichten, weitere Röhrchen, Blutproben oder Mundschleimhautabstriche von Verwandten der Opfer. Tag für Tag. Es hört nie auf.
Wenn diese Babys der nächste Schritt sind, wenn sie auf diesem Planeten besser leben können als wir, kann es mir gar nicht schnell genug gehen. Wir brauchen die Veränderung.«
Die kleine Kellnerin, die ihre Bestellungen aufnahm, hielt beim Schreiben inne und wandte sich an Maria. »Sie identifizieren tote Menschen für die UN?«
Maria sah sie peinlich berührt an. »Manchmal.«
»Ich bin aus Kamputschea, Kambodscha, bin vor fünfzehn Jahren gekommen«, sagte sie. »Sie auch arbeiten mit Kambodschaner?«
»Das war vor meiner Zeit, meine Liebe«, antwortete Maria.
»Ich immer noch sehr zornig«, erklärte die Frau. »Mutter, Vater, Bruder, Onkel. Dann sie lassen die Mörder gehen ohne Strafe.
Sehr böse Männer und Frauen.«
Schweigen senkte sich über den Tisch, als die großen schwarzen Augen der Frau bei der Erinnerung funkelten. Brock beugte sich vor, faltete die Hände und berührte mit dem Daumenknöchel seine Nase.
»Auch jetzt ganz schlecht«, sagte die Kellnerin. »Ich werde trotzdem Baby bekommen.« Sie strich sich über den Bauch und sah Kaye an. »Sie auch?«
»Ja.«
»Ich glaube an Zukunft«, bemerkte die Frau. »Muss besser werden.«
Sie schrieb die letzten Bestellungen auf und verließ den Tisch.
Merton nahm die Essstäbchen und hantierte ein paar Sekunden lang ziellos damit herum. »Das muss ich mir merken«, sagte er.
»Für das nächste Mal, wenn ich bedrückt bin.«
»Heben Sie es sich für Ihr Buch auf«, sagte Brock.
»Ich schreibe tatsächlich eins«, erwiderte Merton mit hochgezogenen Augenbrauen. »Wen wundert’s? Es ist die größte Story im Wissenschaftsjournalismus unserer Zeit.«
»Hoffentlich haben Sie mehr Glück als ich«, sagte Kaye.
»Ich bin blockiert, hänge völlig fest«, entgegnete Merton und schob seine Brille mit dem hinteren Ende eines Essstäbchens nach oben. »Aber das dauert nicht lange. Es hat noch nie lange gedauert.«
Die Kellnerin brachte Frühlingsrollen, Krabben, Sojasprossen und Basilikumblätter in einer Hülle aus durchscheinenden Pfannkuchen. Kaye hatte jetzt kein Bedürfnis mehr nach langweiligem, beruhigendem Haferschleim. Wagemutiger geworden, griff sie mit den Stäbchen nach einer Frühlingsrolle und tauchte sie in ein Schälchen mit süßer brauner Soße. Das Aroma war großartig — sie hätte minutenlang an dem Bissen kauen können, um jedes einzelne Geschmacksmolekül zu genießen. Basilikum und Minze in der Rolle waren fast schon zu intensiv, denn die knusprigen Krabben hatten einen starken Eigengeschmack, den Geschmack des Meeres.
Alle ihre Sinne waren geschärft. Obwohl der große Raum düster und kühl war, erschien er ihr bunt und voller Details.
»Was tun sie da rein?«, fragte sie und kaute den letzten Bissen der Frühlingsrolle.
»Die sind wirklich gut«, meinte Merton.
»Ich hätte besser nichts gesagt«, bemerkte Maria entschuldigend — sie war immer noch gerührt von der Kellnerin und dem kurzen Einblick in deren Vergangenheit.
»Wir glauben alle an die Zukunft«, sagte Mitch. »Wenn wir in unserem alten Trott weitermachen wollten, wären wir nicht hier.«
»Wir müssen wissen, was wir sagen können und wo unsere Grenzen liegen«, erklärte Wendell. »Ich kann nur so weit gehen, wie es meine eigenen Fachkenntnisse erlauben und wie es die Fakultät hinnimmt, selbst wenn ich betone, dass ich nur meine persönliche Meinung äußere.«
»Nur Mut, Wendell«, sagte Merton. »Eine feste Front. Freddie?«
Brock nahm einen Schluck aus seinem schaumgekrönten Bierglas und blickte mit Armesündermiene auf.
»Ich kann noch gar nicht glauben, dass wir uns alle hier versammelt haben, dass wir überhaupt so weit gekommen sind«, erklärte er. »Dass der Wandel so nahe bevorsteht, macht mir regelrecht Angst. Wissen Sie, was geschehen wird, wenn wir unsere Befunde veröffentlichen?«
»Wir werden von fast allen Fachzeitschriften der Welt zur Schnecke gemacht«, vermutete Packer und lachte.
»Von Nature nicht«, erwiderte Merton. »Bei denen habe ich schon ein bisschen Vorarbeit geleistet. Da ist mir ein journalistischer und wissenschaftlicher Handstreich gelungen.« Er grinste.
»Nein, Freunde, bitte«, sagte Brock. »Denken wir mal kurz nach. Wir haben gerade die Jahrtausendwende hinter uns, und jetzt werden wir erfahren, wie wir eigentlich zu Menschen geworden sind.« Er nahm die dicke Brille ab und putzte sie mit seiner Serviette. Der Blick seiner weit geöffneten Augen war in die Ferne gerichtet. »In Innsbruck haben wir unsere Mumien, eingefroren im Spätstadium eines Wandels, der sich über Zehntausende von Jahren hinweg abgespielt hat. Die Frau muss so zäh und mutig gewesen sein, wie wir es uns überhaupt nicht vorstellen können, aber sie wusste sehr wenig. Dr. Lang, Sie wissen viel und machen trotzdem weiter. Ihr Mut ist vielleicht noch großartiger.« Er hob sein Bierglas. »Das Mindeste, was ich Ihnen bieten kann, ist ein von Herzen kommender Trinkspruch.«
Alle hoben die Gläser. Kaye spürte wieder, wie sich ihr Magen regte, aber es war kein unangenehmes Gefühl.
»Auf Kaye«, sagte Brock. »Die nächste Eva.«
77
Seattle
12. August
Kaye saß in dem alten Buick, um nicht nass zu werden. Mitch ging im Regen an der Autoreihe auf dem kleinen Parkplatz am Roosevelt Way entlang, suchte nach dem Typ, der ihr vorschwebte — klein, Baujahr Ende der Neunziger, Volvo oder Japaner, vielleicht blau oder grün —, und blickte dann zu ihr hinüber: Sie hatte das Fenster heruntergekurbelt, um frische Luft zu bekommen.
Mitch nahm den nassen Filzhut ab und lächelte. »Wie wär’s mit der Schönheit da?« Er zeigte auf einen schwarzen Caprice.
»Nein«, sagte Kaye überzeugt. Mitch hatte ein Faible für große, alte amerikanische Autos. In ihrem geräumigen Inneren fühlte er sich zu Hause, und im Kofferraum konnte man Werkzeug oder Gesteinsbrocken transportieren. Am liebsten hätte er einen Geländewagen gekauft, und ein paar Tage lang hatten sie tatsächlich mit dem Gedanken gespielt. Kaye hatte nichts gegen Allradantrieb, aber sie hatten nichts gefunden, was sie sich nach eigener Einschätzung hätten leisten können. Sie wollte eine große Rücklage für Notfälle auf der Bank haben und hatte deshalb eine Obergrenze von zwölftausend Dollar gesetzt.
»Ich lasse mich von meiner Frau aushalten«, sagte er, den Hut traurig in der Hand, und senkte den Kopf vor dem Caprice.
Kaye überging es demonstrativ. Sie war schon den ganzen Vormittag schlechter Laune — beim Frühstück hatte sie ihn zwei Mal angefaucht, aber Mitch hatte den Tadel mit aufreizendem Mitgefühl hingenommen. Sie sehnte sich nach einem richtigen Streit, der ihr Blut in Wallung und ihre Gedanken in Bewegung brachte — der ihren Körper in Gang setzte. Sie war das nagende Gefühl im Bauch leid, das jetzt schon drei Tage anhielt. Sie war es leid zu warten, sich mit dem abzufinden, was sie da in sich trug.
Vor allem aber wollte sie gegen Mitch vom Leder ziehen, weil er sich einverstanden erklärt hatte, sie zu schwängern und diesen entsetzlichen, langwierigen Ablauf in Gang zu setzen.
Mitch schlenderte zu der zweiten Fahrzeugreihe und las die angebrachten Schilder. Eine Frau mit einem Regenschirm kam die Holzstufen von dem kleinen Bürocontainer herunter und sprach ihn an.