Das Baby wäre seine Tochter gewesen, ein überwältigendes Geschenk von der Traummutter. Es sah kaum anders aus als die übrigen Babys im Dorf, nur seine Nase war kleiner, und das Kinn stand vor. Vermutlich wäre es zu einem Flachgesicht herangewachsen. Er versuchte Gras in das Loch am Hinterkopf des Babys zu stopfen, denn er dachte, dort habe der Spieß das Kind vielleicht durchbohrt. Er nahm sein Nackenfell, das feinste und weichste, das er besaß, hüllte das Baby darin ein und schob es in den hinteren Teil der Höhle.
Ihm fiel ein, wie dumpf der Mann gestöhnt hatte, als er auf sein Genick eingestampft hatte, aber es machte nicht viel aus.
Jetzt war alles vorüber. Seit ewigen Zeiten hatte man Höhlen als Begräbnisstätten genutzt, bis sie eines Tages in die hölzernen Dörfer gezogen waren, um dort wie die Flachgesichter zu leben. Auch wenn allgemein behauptet wurde, ihr Volk habe die hölzernen Dörfer erfunden. Aber früher war es Brauch gewesen, in einer Höhle zu sterben und dort auch begraben zu werden, also war es gut so. Die Traummenschen würden das Baby finden und nach Hause bringen, wo man es nur für kurze Zeit vermisst hatte, und so würde es wohl schnell wieder geboren werden.
Sein Weib war schon fast so kalt wie der Stein. Er legte ihre Arme und Beine zurecht, ordnete ihre zerzausten Felle und Pelze, schob die Maske zurück, die immer noch locker an ihren Brauen hing und blickte in ihre trüben, blinden Augen. Er war zu erschöpft zum Trauern.
Ein wenig später wurde ihm so warm, dass er die Felle nicht mehr brauchte, also schob er sie weg. Vielleicht war ihr ja auch warm. Er schob ihre Felle weg, sodass sie fast nackt war. So würden die Traummenschen sie leichter erkennen können.
Er hoffte, dass sich die Traummenschen ihrer Familie mit den Traummenschen seiner Familie verbünden würden. Er wäre gern am Traumort mit ihr zusammen gewesen. Vielleicht würden sie auch das Baby wiederfinden. Er glaubte daran, dass die Traummenschen viel Gutes für einen tun konnten.
Vielleicht dieses, vielleicht jenes, vielleicht viele Dinge. Dinge, die alles besser machten. Ihm wurde immer wärmer.
Für kurze Zeit vergaß er jeden Hass. Er starrte in die Dunkelheit, wo das Gesicht seines Weibes war, und murmelte die Worte, die er beim Reiben von Feuersteinen verwendete, Worte gegen die Düsternis, als könne er auf diese Weise den Sonnenvogel noch einmal zum Leben erwecken. Es tat so gut, sich nicht bewegen zu müssen. Ihm war so wunderbar warm.
Bald darauf trat sein Vater in die Höhle und rief ihn bei seinem richtigen Namen.
Mitch stand in Shorts vor dem Wohnwagen und blickte zum Mond und den Sternen über Kumash hinauf. Leise schnäuzte er sich die Nase. So früh am Morgen war es kühl und still. Der Schweiß auf Körper und Gesicht trocknete langsam und ließ ihn frösteln. Er hatte überall Gänsehaut. Im Gebüsch neben dem Wohnwagen raschelten ein paar Wachteln.
Kaye stieß die Fliegentür so energisch auf, dass die Scharniere quietschten und schabten. Sie kam im Nachthemd heraus und stellte sich neben ihn.
»Du wirst dich erkälten«, sagte er und legte den Arm um sie.
Seine Zunge war während der letzten Tage abgeschwollen. Links hatte sie inzwischen eine seltsame Furche, aber das Sprechen fiel ihm leichter.
»Das ganze Bett ist von deinem Schweiß durchtränkt«, sagte Kaye. Sie war jetzt rund, ganz anders als die kleine, schlanke Kaye, deren Bild er immer noch im Kopf hatte. Ihre Wärme und ihr Duft erfüllten die Luft wie der Dampf einer nahrhaften Suppe.
»Hast du geträumt?«, fragte sie.
»So schlimm wie noch nie«, erwiderte er. »Aber ich glaube, dieser Traum war der Letzte.«
»Ist es jedes Mal derselbe Traum?«
»Nein, jeder Traum ist anders.«
»Jack will bestimmt alle blutrünstigen Einzelheiten hören«, bemerkte Kaye.
»Du etwa nicht?«
»Besser nicht«, sagte Kaye. »Mitch, sie ist ein bisschen nervös, sprich mit ihr.«
87
Kumash County, im Osten des Staates Washington
18. Mai
Kayes Wehen kamen jetzt regelmäßig. Mitch vergewisserte sich durch einen Anruf bei der Klinik, dass alles vorbereitet war und dass Dr. Chambers, der Kinderarzt, sein Backsteinhaus am Nordrand des Reservats bereits verlassen hatte. Als Kaye die letzten Toilettenartikel in dem Kulturbeutel verstaute und ein paar bequeme Kleidungsstücke heraussuchte, die sie nach der Geburt tragen wollte, rief Mitch noch einmal bei Dr. Galbreath an, aber er erreichte nur die automatische Mailbox.
»Sie ist sicher unterwegs«, sagte er, als er das Telefon zusammenklappte. Für den Fall, dass die Polizei die Ärztin an den Kontrollpunkten auf den Hauptstraßen nicht durchließ — eine realistische Möglichkeit, die Mitch wütend machte —, hatte Jack dafür gesorgt, dass zwei Männer sich acht Kilometer weiter südlich mit ihr trafen und sie auf einem Schleichweg durch die niedrigen Hügel hereinschmuggelten.
Mitch holte eine Kiste heraus, wühlte nach der kleinen Digitalkamera, mit der er früher Einzelheiten der Grabungsstätten festgehalten hatte, und überzeugte sich davon, dass die Akkus geladen waren.
Kaye stand im Wohnzimmer und hielt sich den Bauch. Ihr Atem kam in kurzen Stößen. Als er zu ihr kam, lächelte sie ihn an.
»Ich habe solche Angst«, sagte sie.
»Warum?«
»Du lieber Gott, du fragst warum?«
»Es wird alles gut gehen«, sagte Mitch, aber er war blass wie ein Laken.
»Deshalb sind deine Hände auch so eiskalt«, sagte Kaye. »Ich bin früh dran. Vielleicht ist es falscher Alarm.« Sie stöhnte seltsam auf und fasste sich zwischen die Beine. »Ich glaube, die Fruchtblase ist gerade geplatzt. Ich brauche ein paar Handtücher.«
»Vergiss doch die blöden Handtücher!«, rief Mitch. Er half ihr, in den Toyota einzusteigen. Sie zog den Sicherheitsgurt über ihren Bauch. Nicht wie in den Träumen, dachte er. Der Gedanke wurde zu einer Art Gebet, das er immer und immer wieder zum Himmel schickte.
»Von Augustine hat niemand mehr etwas gehört«, sagte Kaye, als Mitch auf die Asphaltstraße einbog, um die drei Kilometer zur Klinik zu fahren.
»Warum auch?«
»Er könnte ja versuchen, es zu verhindern.«
Mitch warf ihr einen amüsierten Blick zu. »Das wäre genauso verrückt wie in meinen Träumen.«
»Er ist der Buhmann, Mitch. Ich habe Angst vor ihm.«
»Ich mag ihn auch nicht, aber er ist kein Ungeheuer.«
»Er hält uns für krank«, sagte sie, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. Plötzlich jaulte sie auf.
»Die nächste?«, fragte Mitch.
Sie nickte. »Ist schon gut«, sagte sie. »Alle zwanzig Minuten.«
Sie begegneten Jack, der mit seinem Lastwagen vom Ostrand des Reservats kam, und hielten kurz an, um sich von Fenster zu Fenster zu unterhalten. Sue saß neben Jack. Die beiden fuhren hinter ihnen her.
»Sue soll dir helfen, wenn du mich unterstützt«, sagte Kaye. »Ich möchte, dass sie bei uns ist. Wenn bei mir alles klappt, wird es für sie viel einfacher.«
»Nichts dagegen«, erwiderte Mitch. »Ich bin da schließlich kein Experte.«
Kaye lächelte und schrie erneut auf.
Das Zimmer 1 der Kumash Wellness Clinic wurde schnell in einen kleinen Kreißsaal verwandelt. Man hatte ein Krankenhausbett und einen hohen Stahlständer mit einer großen runden Operationsleuchte hereingefahren.
Die Hebamme Mary Hand, eine stämmige Frau mittleren Alters mit hohen Wangenknochen, ordnete die medizinischen Instrumente auf einem Tablett und half Kaye, das Krankenhausnachthemd anzuziehen. Eine halbe Stunde nachdem das Zimmer fertig war, kam Dr. Pound, der Anästhesist, ein blässlicher Mann mit dichten schwarzen Haaren und Boxernase. Er unterhielt sich mit Chambers, während Mitch im Waschbecken Eis in einem Plastikbeutel zerkleinerte. Die Eisbrocken füllte er in eine Schüssel.