Mitch erzählte es ihr.
»Dann müssen wir wieder aus dem Koffer leben«, sagte sie nüchtern. Sie hatte mit Schlimmerem gerechnet. »Lass’ uns gleich heute Abend packen!«
91
Kumash County, im Osten des Staates Washington
Mitch erwachte aus einem tiefen, traumlosen Schlaf, setzte sich im Bett auf und lauschte. »Was ist denn los?«, murmelte er.
Kaye lag regungslos neben ihm und schnarchte leise. Er blickte hinüber zu Stellas Körbchen auf dem Wandbrett und der batteriebetriebenen Uhr daneben, deren Zeiger im Dunkeln glühten. Es war Viertel nach zwei in der Nacht.
Ohne nachzudenken, rutschte er zum Fußende des Bettes, stand auf und rieb sich die Augen. Bis auf seine Boxershorts war er nackt. Er hätte schwören können, dass jemand etwas gesagt hatte, aber es war ganz still. Plötzlich begann sein Herz zu rasen, und er spürte in Armen und Beinen die Unruhe hochsteigen. Er drehte sich um, sah Kaye an, dachte daran, sie zu wecken, entschied sich dagegen.
Mitch wusste ganz genau, was er jetzt tun würde: den Wohnwagen überprüfen, sich vergewissern, dass niemand draußen herumschlich und einen Hinterhalt legte. Es war ihm klar, ohne dass er lange darüber nachdenken musste, und er stellte sich darauf ein, nach dem Moniereisen zu greifen, das er für genau diesen Fall unter dem Bett liegen hatte. Er hatte nie eine Pistole besessen und wusste auch nicht, wie man damit umging; als er jetzt ins Wohnzimmer ging, fragte er sich, ob das vielleicht dumm gewesen war.
Die Kälte ließ ihn zittern. Draußen zogen Wolken auf; er konnte durch das Fenster über dem Sofa keinen einzigen Stern erkennen. Im Badezimmer stolperte er über den Windeleimer. Und ganz plötzlich wurde ihm klar, dass jemand von innerhalb des Wohnwagens nach ihm gerufen hatte.
Er ging wieder ins Schlafzimmer. Das Babykörbchen, das auf Kayes Seite halb in, halb vor der Kammer neben dem Bett stand, hob sich im Dunkeln vom Hintergrund ab.
Seine Augen gewöhnten sich jetzt immer besser an die Dunkelheit, aber er nahm das Babykörbchen nicht mit den Blicken wahr.
Er schniefte — seine Nase lief. Er schniefte noch einmal, beugte sich nach vorn, lehnte sich dann plötzlich zurück und nieste laut.
Kaye setzte sich im Bett auf. »Was ist los? Mitch?«
»Ich weiß nicht«, sagte er.
»Hast du nach mir gerufen?«
»Nein.«
»Und Stella?«
»Die ist ganz still. Ich glaube, sie schläft.«
»Mach’ mal das Licht an.«
Das klang vernünftig. Er schaltete das Deckenlicht ein. Stella sah ihn aus dem Körbchen mit weit geöffneten rehbraunen Augen an. Die Hände hatte sie zu kleinen Fäusten geballt. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, sodass sie ein wenig wie eine Miniaturausgabe von Marilyn Monroe aussah, aber sie war still.
Kaye krabbelte zur Bettkante und sah ihre Tochter an.
Stella gurrte leise. Sie verfolgte ihre Eltern aufmerksam mit Blicken, die scharf und wieder unscharf wurden und sich gelegentlich überkreuzten, wie es ihre Art war. Immerhin war deutlich zu erkennen, dass sie die beiden sah und dass sie nicht unglücklich war.
»Sie ist einsam«, sagte Kaye. »Ich habe sie vor einer Stunde gestillt.«
»Hat sie übersinnliche Kräfte?«, fragte Mitch und streckte sich.
»Hat sie mit ihrem Geist nach uns gerufen?« Wieder schniefte er, und dann musste er noch einmal niesen. Das Schlafzimmerfenster war geschlossen. »Was ist denn hier in der Luft?«
Kaye hockte sich vor das Körbchen und nahm Stella heraus. Sie rieb ihre Nase an der Kleinen und sah dann, die Lippen fast wie Zähne fletschend zurückgezogen, zu Mitch auf. Jetzt musste auch sie niesen.
Stella gurrte wieder.
»Ich glaube, sie hat Koliken«, sagte Kaye. »Riech’ mal.«
Mitch nahm ihr die Kleine ab. Stella wand sich und sah ihn mit gerunzelten Brauen an. Er hätte schwören können, dass sie heller wurde und dass jemand entweder im Zimmer oder draußen seinen Namen rief. Jetzt war ihm wirklich unheimlich zumute.
»Vielleicht stammt sie tatsächlich aus Star Trek«, sagte Mitch. Er schnupperte noch einmal an ihr und verzog dann die Lippen.
»Ganz bestimmt«, sagte Kaye skeptisch. »Übersinnliche Fähigkeiten hat sie jedenfalls nicht.« Sie nahm die Kleine, die, zufrieden über die Bewegung, die Fäuste schwenkte, und trug sie in die Küche.
»Menschen haben angeblich keins, aber vor ein paar Jahren haben Wissenschaftler herausgefunden, dass wir es doch besitzen.«
»Was besitzen?«, fragte Mitch.
»Ein aktives vomeronasales Organ. Am Ansatz der Nasenhöhle.
Es verarbeitet bestimmte Moleküle … die Vomeropherine. Wie Pheromone. Ich vermute, unsere Kleine kann es erheblich besser.«
Sie setzte das Baby auf ihre Hüfte. »Du hast die Lippen zurückgezogen …«
»Du auch«, erwiderte Mitch abwehrend.
»Das ist eine vomeronasale Reaktion. Unsere Katze zu Hause hat das auch gemacht, wenn sie etwas Interessantes gerochen hat — eine Maus zum Beispiel oder die Achselhöhle meiner Mutter.«
Kaye hob das leise jammernde Baby hoch und schnupperte an Kopf, Hals und Bauch. Dann hielt sie die Nase noch einmal hinter Stellas Ohr. »Riech’ mal hier«, sagte sie.
Mitch schnupperte, fuhr zurück und unterdrückte ein Niesen.
Vorsichtig tastete er hinter dem Ohr seiner Tochter. Sie zuckte zusammen, fühlte sich offensichtlich nicht mehr ganz wohl und gab ein Glucksen von sich, als ob sie gleich weinen wollte. »Nein«, sagte er entschieden. »Nein.«
Kaye öffnete ihren Büstenhalter und legte Stella an, bevor sie sich richtig ärgerte.
Mitch zog den Finger zurück. Die Spitze war ein wenig schmierig, als hätte er nicht einem Baby, sondern einem Teenager hinter das Ohr gefasst. Aber die Schmiere war eigentlich kein Hauttalg.
Sie fühlte sich beim Reiben rau und wachsartig an, und sie roch nach Moschus.
»Pheromone«, sagte er. »Oder wie würdest du es nennen?«
»Vomeropherine. Einladung à la Baby. Wir müssen noch eine Menge lernen«, erwiderte Kaye schläfrig, während sie Stella ins Schlafzimmer trug und neben sich legte. »Du bist zuerst aufgewacht«, murmelte sie. »Du hattest schon immer eine ausgezeichnete Nase. Gute Nacht!«
Mitch tastete hinter seinen eigenen Ohren und schnupperte dann an seinem Finger. Plötzlich musste er wieder niesen, und dann blieb er hellwach am Fußende des Bettes stehen. Seine Nase und sein Gaumen prickelten.
Nachdem er es geschafft hatte, wieder einzuschlafen, verging noch nicht einmal eine Stunde, dann wachte er erneut auf, stand eilig auf und zog sich sofort die Hose an. Draußen war es noch dunkel.
Er tippte an Kayes Fuß.
»Lastwagen«, sagte er. Gerade hatte er sich das Hemd zugeknöpft, da trommelte jemand gegen die Tür. Kaye schob Stella in die Mitte des Bettes und schlüpfte eilig in Hose und Pullover.
Mitch öffnete, ohne sich auch nur die Manschetten zuzuknöpfen. Draußen stand Jack, die Mundwinkel weit heruntergezogen und die Mütze so tief in der Stirn, dass man die Augen kaum erkennen konnte. »Sue liegt in den Wehen«, sagte er. »Ich muss wieder in die Klinik.«
»Wir kommen sofort«, sagte Mitch. »Ist Galbreath schon da?«
»Sie kommt nicht. Und ihr solltet jetzt auch hier verschwinden.
Die Treuhänder haben gestern Abend abgestimmt, während ich bei Sue war.«
»Wie …«, setzte Mitch an, aber dann sah er drei Lastwagen und sieben Männer auf dem Schotter des Vorplatzes stehen.
»Sie sind zu dem Schluss gelangt, dass die Babys krank sind«, sagte Jack jämmerlich. »Sie wollen, dass die Regierung sich um sie kümmert.«