»Vielleicht, ich weiß es nicht«, sagte Dicken und rieb sich die Hände nervös an der Hose. Kirby sah es und blickte kühl auf, als sei es ihr seinetwegen ein wenig peinlich.
»Wer weiß es denn?«, fragte sie.
»Kaye Lang«, erwiderte Dicken.
Ohne dass Kirby es sah, machte Augustine eine kleine Handbewegung. Dicken bewegte sich auf sehr dünnem Eis. Über dieses Thema hatten sie noch nicht gesprochen.
»Sie hatte offensichtlich früher als alle anderen bei SHEVA den Fuß in der Tür«, sagte Kirby. Mit großen Augen beugte sie sich über dem Schreibtisch nach vorn und warf ihm einen herausfordernden Blick zu. »Aber Christopher, woher wussten Sie … damals im August, in Georgien? Ihr Jagdinstinkt?«
»Ich hatte ihre Artikel gelesen. Was sie darüber schrieb, war schon für sich gesehen faszinierend.«
»Sie machen mich neugierig. Warum hat Mark Sie nach Georgien und in die Türkei geschickt?«, wollte Kirby wissen.
»Ich schicke Christopher nur selten irgendwohin«, warf Augustine ein. »Wenn es darum geht, unsere Art von Beute zu finden, hat er denn Instinkt eines Wolfes.«
Kirby hielt den Blick weiter auf Dicken geheftet.
»Raus mit der Sprache, Christopher. Mark hat Sie auf die Fährte einer gruseligen Krankheit gesetzt. Ich bewundere so etwas — vorbeugende Medizin, angewandt auf die Politik. Und in Georgien ist Ihnen zufällig Ms. Kaye Lang über den Weg gelaufen?«
»Es gibt in Tiflis eine Außenstelle der CDC«, versuchte Augustine zu helfen.
»Eine Außenstelle, die Mr. Dicken nicht einmal zu einem Höflichkeitsbesuch aufgesucht hat«, erwiderte die Leiterin des Gesundheitswesens, und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen.
»Ich habe nach ihr gesucht. Ich bewundere ihre Arbeiten.«
»Und Sie haben ihr nichts gesagt?«
»Nichts von Bedeutung.«
Kirby lehnte sich in ihrem Sessel zurück und sah Augustine an.
»Können wir sie herholen?«, fragte sie.
»Sie hat derzeit ein paar Probleme«, antwortete Augustine.
»Was für Probleme?«
»Ihr Mann wird vermisst, vermutlich Selbstmord.«
»Das war vor über einem Monat«, warf Dicken ein.
»Es scheinen noch mehr Schwierigkeiten dahinter zu stecken.
Bevor ihr Mann verschwunden ist, hat er hinter ihrem Rücken die Firma verkauft, um investiertes Risikokapital zurückzuzahlen, von dem sie offenbar nichts wusste.«
Davon hatte Dicken noch nichts gehört. Anscheinend hatte Augustine seine eigenen Nachforschungen über Kaye Lang angestellt.
»Großer Gott«, sagte Shawbeck, »dann ist sie jetzt also sozusagen ein seelisches Wrack, und wir sollten sie in Ruhe lassen, bis sie sich erholt hat?«
»Wenn wir sie brauchen, brauchen wir sie«, sagte Kirby. »Meine Herren, solche Gefühle mag ich nicht. Sie können es weibliche Intuition nennen, wegen der Eierstöcke und so. Ich möchte den Rat aller Experten, die wir bekommen können. Mark?«
»Ich ruf sie an«, gab Augustine untypisch schnell nach. Er hatte den Wind richtig gedeutet und gesehen, wie die Wetterfahne sich drehte; Dicken hatte einen Punkt gutgemacht.
»Tun Sie das«, sagte Kirby, drehte sich mit ihrem Stuhl herum und blickte Dicken scharf ins Gesicht. »Christopher, um alles in der Welt, ich glaube, Sie verheimlichen mir immer noch etwas.
Was?«
Dicken lächelte und schüttelte den Kopf. »Nichts Handfestes.«
»Ach?« Kirby hob die Augenbrauen. »Der beste Virusjäger im NCID? Mark sagt, er verlässt sich auf Ihre Nase.«
»Manchmal ist dieser Mark einfach zu ehrlich«, warf Augustine ein.
»Jaaa …«, erwiderte Kirby, »und Christopher sollte auch ehrlich sein. Was sagt Ihnen Ihre Nase?«
Dicken war über die Frage der Leiterin des Gesundheitswesens ein wenig bestürzt; er mochte die Karten nicht auf den Tisch legen, solange er so ein schwaches Blatt in der Hand hatte. »SHEVA ist alt, sehr alt«, wiederholte er noch einmal.
»Und?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob es eine Krankheit ist.«
Shawbeck stieß ein kurzes, zweifelndes Schnauben aus.
»Weiter«, forderte Kirby ihn auf.
»Es ist ein alter Teil unserer biologischen Ausstattung. Es war schon in unserer DNA, lange bevor es Menschen gab. Vielleicht tut es einfach das, was es tun muss.«
»Babys umbringen?«, schlug Shawbeck bissig vor.
»Eine größere Funktion auf der Ebene der Spezies steuern.«
»Bleiben wir mal bei den handfesten Dingen«, warf Augustine eilig ein. »SHEVA ist die Herodes-Grippe. Es verursacht umfassende Missbildungen und Fehlgeburten.«
»Nach meinem Dafürhalten ist der Zusammenhang eindeutig«, sagte Kirby. »Ich glaube, das kann ich dem Präsidenten und dem Kongress verkaufen.«
»Einverstanden«, sagte Shawbeck, »wenn auch mit einigen schweren Bedenken. Ich frage mich, ob alle diese Rätsel uns irgendwann auf dem weiteren Weg einholen und in den Arsch beißen werden.«
Dicken spürte eine gewisse Erleichterung. Er hatte sein Ziel fast erreicht und für später noch einen Trumpf im Ärmel behalten; SHEVASpuren in den georgischen Leichen. Die Befunde von Maria Konig an der University of Washington waren gerade eingetroffen.
»Ich bin morgen beim Präsidenten«, sagte die Leiterin des Gesundheitswesens. »Ich habe dort zehn Minuten Zeit. Gebt mir die Papierausdrucke der Inlandsstatistiken, zehn bunt kolorierte Exemplare.«
SHEVA würde bald offiziell zur Krise erklärt werden. In der Gesundheitspolitik löste man Krisen in der Regel mit altbekannter Wissenschaft und bürokratisch erprobten Routinemaßnahmen.
Solange sich nicht in vollem Umfang zeigte, wie seltsam die Lage wirklich war, würde niemand ihm seine Schlussfolgerungen abnehmen, dachte Dicken. Er konnte sie selbst kaum glauben.
Draußen, unter dem filzfarbenen Himmel des düsteren Novembernachmittags, öffnete Augustine die Tür der Dienstlimousine und sagte über das Wagendach hinweg: »Wenn Sie gefragt werden, was Sie wirklich denken, was tun Sie dann?«
»Ich schwimme mit dem Strom«, erwiderte Dicken.
»Sie haben es erfasst, geniales Bürschchen.«
Augustine saß am Steuer. Obwohl Dicken fast einen Patzer begangen hätte, war Augustine mit der Besprechung offenbar hochzufrieden. »Sie hat nur noch sechs Wochen bis zur Pensionierung.
Und als Vorschlag für einen Nachfolger hat sie dem Stabschef des Weißen Hauses meinen Namen genannt.«
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Dicken.
»Mit Shawbeck dicht dahinter an zweiter Stelle«, fügte Augustine hinzu. »Aber damit könnte es klappen, Christopher. Das könnte die Eintrittskarte sein.«
22
New York
Kaye saß in dem teuer getäfelten Büro auf einem dunkelbraunen Ledersessel und fragte sich, warum die hoch bezahlten Ostküstenanwälte immer solche elegantdüsteren Statussymbole brauchten.
Ihre Finger pressten sich gegen die Messingknöpfe der Polsternägel auf der Armlehne.
Daniel Munsey, der Rechtsvertreter von AKS Industries, stand neben dem Schreibtisch von J. Robert Orbison, der seit dreißig Jahren der Anwalt ihrer Familie war. Nachdem Kayes Eltern vor fünf Jahren gestorben waren, hatte sie Orbisons Pauschalhonorar nicht weiter bezahlt. Aber als Saul verschwunden war und gleichzeitig von AKS und EcoBacters Firmenanwalt die höchst verblüffende Nachricht kam, die Firma werde von AKS geschluckt, hatte sie sich in einer Art Schockzustand an Orbison gewandt. Er hatte sich als anständiger, fürsorglicher Mann erwiesen und versprochen, er werde ihr nicht mehr berechnen als Mr. und Mrs. Lang in den dreißig Jahren ihrer Geschäftsbeziehung.
Orbison war nicht nur dünn wie eine Bohnenstange, sondern auch ausgestattet mit Hakennase, Glatze, Altersflecken auf Kopf und Wangen, Haaren an den Muttermalen, hängenden feuchten Lippen und verschlafenen blauen Augen. Aber immerhin trug er einen eleganten, maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug mit weißen Aufschlägen und eine Krawatte, die den Ausschnitt seiner Weste fast völlig ausfüllte.