»Ich würde gern darüber lachen, Frank«, sagte Augustine, »aber ich werde fast verrückt vor Angst. Wir befinden uns auf unbekanntem Terrain. Fast die Hälfte der Proteine, die SHEVA aktiviert, kennen wir nicht. Wir haben keine Ahnung, was sie bewirken. Die Sache könnte einschlagen wie eine Bombe. Ich frage mich immer wieder: Warum gerade ich, Frank?«
»Weil du so ehrgeizig bist, Mark«, erwiderte Shawbeck. »Du hast diesen besonderen Stein gefunden und darunter geblickt.« Shawbeck lächelte ein wenig herausfordernd. »Nicht dass du eine andere Wahl gehabt hättest … langfristig.«
Augustine legte den Kopf schief. Dicken konnte seine Nervosität geradezu riechen. Er fühlte sich auch selbst etwas benommen.
Wir sitzen im falschen Boot und rudern wie die Verrückten, dachte er.
26
Seattle
Dezember
Mitch hatte es noch nie lange an einem Ort ausgehalten. Er war einen Tag bei seinen Eltern auf der kleinen Farm in Oregon geblieben und dann mit dem Zug nach Seattle gefahren. Dort mietete er sich, nachdem er eine alte Pensionsversicherung angegriffen hatte, eine Wohnung am Capitol Hill und kaufte für zweitausend Dollar von einem Freund in Kirkland einen alten Buick Skylark.
So weit von Innsbruck entfernt erregten die Neandertalermumien bei der Presse glücklicherweise nur geringe Neugier. Er gab ein einziges Interview, und zwar dem Wissenschaftsredakteur der Seattle Times, der sich dann aber gegen ihn wandte und ihn des zweimaligen Verstoßes gegen die nüchternen, ordentlichen Gesetze der Archäologie bezichtigte.
Als er gerade eine Woche in Seattle war, bestattete die Konföderation der Fünf Stämme von Kumash den Pasco-Menschen noch einmal, und zwar mit einer komplizierten Zeremonie am Ufer des Columbia River im Osten des Staates Washington. Das Army Corps of Engineers deckte die Begräbnisstätte mit Beton ab, um sie vor Erosion zu schützen. Die Wissenschaftler protestierten, aber Mitch wurde nicht aufgefordert, sich an den Protesten zu beteiligen.
Er wollte jetzt vor allem Zeit für sich haben und nachdenken.
Seine Ersparnisse reichten für ein halbes Jahr, aber er bezweifelte stark, dass dieser Zeitraum ausreichen würde, um seinen schlechten Ruf schneller in Vergessenheit geraten zu lassen und wieder eine Stelle zu finden.
Jetzt saß er mit ausgestrecktem Gipsbein am vorgebauten Erkerfenster seiner Wohnung und blickte zu den Fußgängern auf dem Broadway hinab. Er musste ständig an das mumifizierte Baby denken, an die Höhle und den Ausdruck auf Francos Gesicht.
Die kleinen Glasröhrchen mit dem Gewebe der Mumien hatte er in einer Pappschachtel mit alten Fotos verstaut, die er ganz hinten im Kleiderschrank untergebracht hatte. Bevor er mit diesem Gewebe irgendetwas unternahm, musste er sich selbst darüber klar werden, was er eigentlich entdeckt hatte.
Selbstgerechter Zorn war nicht produktiv.
Er hatte den Zusammenhang erkannt. Die Verletzung der Frau passte zu der Wunde bei dem Kind. Die Frau hatte es zur Welt gebracht oder vielleicht abgetrieben. Der Mann war dabei geblieben und hatte das Neugeborene in Fell gewickelt, obwohl es wahrscheinlich tot geboren war. Hatte der Mann die Frau angegriffen?
Das glaubte Mitch nicht. Sie waren verliebt. Er hing an ihr. Sie waren vor irgendetwas auf der Flucht. Und woher wusste er das alles?
Mit außersinnlicher Wahrnehmung oder der Anrufung von Geistern hatte es nichts zu tun. Mitch hatte einen nicht unerheblichen Teil seiner Berufslaufbahn darauf verwendet, die mehrdeutigen Beobachtungen an archäologischen Fundstätten zu interpretieren. Manchmal kam er durch nächtelanges Grübeln auf die Antwort, manchmal auch, wenn er auf Steinen saß und die Wolken oder den gestirnten Nachthimmel betrachtete. Und in seltenen Fällen zeigte sich die Lösung im Traum. Solche Interpretationen waren Wissenschaft und Kunst zugleich.
Tagein, tagaus zeichnete Mitch Diagramme, schrieb kurze Notizen, notierte etwas in seinem kleinen, in Vinyl gebundenen Tagebuch. Er heftete ein Stück Pergamentpapier an die Wand des kleinen Zimmers und zeichnete darauf einen Lageplan der Höhle, wie er sie in Erinnerung hatte. Er klebte die aus Papier ausgeschnittenen Umrisse der Mumien auf das Pergamentpapier. Er setzte sich hin und starrte das Pergamentpapier mit den ausgeschnittenen Gestalten an. Er biss sich die Fingernägel bis auf das Fleisch ab.
Einmal trank er an einem Nachmittag einen ganzen Sixpack CoorsBier. Es war nach langen Tagen des Grabens einer seiner liebsten Flüssigkeitsspender gewesen, aber diesmal tat er es ohne Grabung, ohne Zweck, nur um etwas anderes auszuprobieren. Er schlief ein, wachte um drei Uhr morgens wieder auf und ging auf der Straße spazieren, an einem Schnellimbiss vorüber, einem mexikanischen Restaurant, einer Buchhandlung, einem Zeitungsstand und einer Starbuck’sKaffeebar.
Dann kehrte er zu seiner Wohnung zurück, und ihm fiel ein, dass er nach seiner Post sehen könnte. Eine Pappschachtel war angekommen. Er trug sie die Treppe hinauf und schüttelte sie sanft.
Bei einer Buchhandlung in New York hatte er eine alte Ausgabe des National Geographic mit einem Artikel über den Eismenschen Ötzi bestellt. Das Heft war in alte Zeitungen verpackt.
Liebevoll. Mitch wusste, dass sie liebevoll zueinander gewesen waren. Wie sie nebeneinander lagen. Wie das männliche Wesen seine Arme hielt. Es war bei dem weiblichen Wesen geblieben, obwohl es hätte fliehen können. Was zum Teufel — nun sag’ es schon. Der Mann war bei der Frau geblieben. Neandertaler waren keine Untermenschen; mittlerweile war allgemein anerkannt, dass sie eine Sprache besaßen und über komplizierte Sozialstrukturen verfügten. Stämme. Nomaden, Händler, Werkzeugmacher, Jäger und Sammler.
Mitch versuchte sich vorzustellen, was sie wohl vor zehn- oder elftausend Jahren dazu bewogen hatte, sich im Gebirge zu verstecken, in einer Höhle hinter dem Eispanzer. Vielleicht waren sie die Letzten ihrer Art.
Und sie hatten ein Baby zur Welt gebracht, das in den meisten Aspekten nicht von einem heutigen Kind zu unterscheiden war.
Er riss die Verpackung aus Zeitungspapier von dem Magazin, schlug es auf und blätterte bis zu der Ausklappkarte, auf der die Alpen zu sehen waren — die grünen Täler, die Gletscher, die Stelle, an der man den Eismenschen aus dem Eis freigehackt hatte.
Heute wurde der Eismensch in Italien zur Schau gestellt. In der Frage, wo man den fünftausend Jahre alten Leichnam gefunden hatte, gab es zunächst internationale Meinungsverschiedenheiten, und nachdem die wichtigsten Untersuchungen in Innsbruck abgeschlossen waren, hatte Italien schließlich Anspruch darauf erhoben.
Die Neandertaler standen eindeutig Österreich zu. Man würde sie an der Universität Innsbruck untersuchen, vielleicht in dem selben Institut, wo man zuvor den Ötzi studiert hatte. Sie waren tiefgefroren in genau kontrollierter Luftfeuchtigkeit gelagert; durch ein kleines Fenster konnte man sie sehen: Sie lagen nebeneinander, wie sie gestorben waren.
Mitch schlug die Zeitschrift zu und drückte seine Nase mit zwei Fingern zusammen, als ihm einfiel, wie entsetzlich durcheinander er sich gefühlt hatte, nachdem er auf den Pasco-Menschen gestoßen war. Ich habe die Beherrschung verloren. Ich wäre fast ins Gefängnis gewandert. Ich bin nach Europa gegangen, um etwas Neues auszuprobieren. Ich habe etwas Neues gefunden. Ich habe mich verrannt und es vermasselt. Ich habe keinerlei Glaubwürdigkeit mehr.