»Aber das hier hat doch nichts mit HIV zu tun«, sagte Augustine.
»Er behauptet, es könne eine ähnliche Rezeptoraktivität sein.
Das ist weit hergeholt, aber er ist berühmt und hat auf dem Hill eine Menge zu sagen. Und offenbar kann er uns auch bei den Franzosen von Nutzen sein, nachdem sie jetzt wieder zusammenarbeiten.«
»Wie sollen wir das therapieren, Frank? Verdammt noch mal, meine Leute haben SHEVA bei allen Affen gefunden, von grünen Meerkatzen bis zu Berggorillas.«
»Für Pessimismus ist es noch zu früh«, erwiderte Shawbeck. »Es sind erst drei Monate.«
»Wir haben allein an der Ostküste vierzigtausend bestätigte Fälle von Herodes-Grippe, Frank! Und kein Silberstreif am Horizont!«
Augustine schlug mit der Faust auf die Kunststofftafel.
Shawbeck schüttelte den Kopf, hob beide Hände und machte leise, zischende Geräusche.
Augustine mäßigte seine Lautstärke und ließ die Schultern hängen. Dann nahm er einen Lappen und wischte sich sorgfältig die Handkante ab, mit der er die Farbe auf der Tafel verschmiert hatte. »Das Positive ist, dass es sich herumspricht«, sagte er. »Wir hatten schon zwei Millionen Zugriffe auf unsere HerodesWebsite.
Aber hast du gestern Abend Audrey Korda in Larry King Live gehört?«
»Nein«, sagte Shawbeck.
»Sie meint, Männer seien mehr oder weniger Teufel in Menschengestalt. Sie sagt, Frauen sollten ohne uns auskommen, man solle uns in Quarantäne stecken — pffi!« Seine Hand schoss nach vorn. »Kein Sex mehr, kein SHEVA mehr.«
Shawbecks Augen glitzerten wie kleine feuchte Steine. »Vielleicht hat sie Recht, Mark. Hast du die Liste der Leiterin des Gesundheitswesens mit den extremen Maßnahmen gesehen?«
Augustine ließ die Hand nach hinten durch seine sandfarbenen Haare gleiten. »Ich hoffe bloß, dass die nie an die Öffentlichkeit kommt.«
28
Long Island, New York
Wie kleine blaue Kaulquappen lagen Zahnpastatropfen im Waschbecken. Kaye spülte sich den Mund, spuckte das Wasser im hohen Bogen aus, um die Kaulquappen in den Abfluss zu befördern, und rieb sich das Gesicht mit einem Handtuch ab. Dann stellte sie sich in den Eingang des Badezimmers und blickte die lange Treppe hinauf zur geschlossenen Tür des ehelichen Schlafzimmers.
Es war ihre letzte Nacht in dem Haus; sie hatte im Gästezimmer geschlafen. Noch einmal sollte um elf Uhr heute Vormittag ein — kleiner — Umzugswagen kommen und die wenigen Habseligkeiten abholen, die sie mitnehmen wollte. Caddy würde Crickson und Temin adoptieren.
Das Haus stand zum Verkauf. Bei dem derzeitigen Immobilienboom würde sie dafür einen Superpreis erzielen. Wenigstens dieses Geld war vor den Gläubigern sicher: Saul hatte das Haus auf sie überschrieben.
Sie suchte heraus, was sie anziehen wollte — einfacher weißer Slip und BH, eine Kombination aus Bluse und cremefarbenem Pullover, hellblaue Hose — und verstaute die wenigen Kleidungsstücke, die noch nicht verpackt waren, in einem Koffer. Sie war es Leid, sich um Sachen zu kümmern, dieses und jenes Sauls Schwester zuzuteilen, Beutel als Kleiderspenden zu kennzeichnen, anderes auf den Müll zu werfen.
Fast eine Woche hatte sie gebraucht, um diejenigen Spuren ihres gemeinsamen Lebens zu beseitigen, die sie nicht mitnehmen wollte und die nach Überzeugung des Immobilienmaklers potenzielle Käufer eher abschrecken würden. Vorsichtig hatte er ihr erklärt, wie verheerend sich »diese ganzen Wissenschaftsbücher und Fachzeitschriften« auswirken könnten: »Zu abstrakt. Zu kalt. Einfach die falsche Farbe.«
Kaye malte sich aus, wie kritischgeistlose Paare, snobistische OberschichtFuzzis, in dem Haus einfallen würden, chic gekleidet in Tweed und Mokassins oder in weiche Seide und knielange Mikrofaser, Leute, die jedes Zeichen echter Individualität und Intellektualität vermieden, die Stiltipps aus den Sonntagsbeilagen der Zeitungen dagegen höchst reizvoll fanden. Nun ja, auch das Haus selbst hatte einige solche Reize zu bieten. Zusammen mit Saul hatte sie Möbel, Gardinen und Teppiche gekauft, die keinen offenen Angriff auf diese Art von Attraktivität darstellten. Aber bevor das Haus auf den Markt geworfen wurde, musste sie ihr gemeinsames Leben daraus entfernen.
Ihr gemeinsames Leben. Saul hatte seinem Anteil an der Fortsetzung ein Ende gemacht. Hier löschte sie die Hinweise auf ihre gemeinsame Zeit aus; AKS fledderte und verteilte ihr gemeinsames Berufsleben.
Der Immobilienmakler war rücksichtvoll gewesen und hatte Sauls blutiges Ende nicht erwähnt.
Wie lange würden die Schuldgefühle anhalten? Auf dem Weg die Treppe hinunter hielt sie inne und biss sich in den Daumenballen.
So oft sie sich auch einen Ruck gab und auf irgendein Gleis zurückzufinden versuchte, das ihr geblieben war, immer wieder driftete sie in ein Labyrinth der Assoziationen ab, auf emotionale Pfade, die ihre Traurigkeit noch verstärkten. Das Angebot der HerodesTaskforce war eine Möglichkeit, wieder eine eindeutige Richtung einzuschlagen, einen neuen, nüchternen und stabilen Weg. Die Merkwürdigkeiten der Natur würden ihr helfen, über die Merkwürdigkeiten ihres eigenen Lebens hinwegzukommen.
Das war zwar bizarr, aber es war auch annehmbar und glaubhaft; so konnte ihr Leben funktionieren.
Die Türklingel läutete melodisch »Eleanor Rigby«. Ein Anklang an Saul. Kaye stieg die letzten Stufen hinunter und öffnete die Tür. Unter dem Vordach stand Judith Kushner mit verkniffenem Gesicht. »Ich bin sofort gekommen, nachdem ich ein Muster erkennen konnte«, sagte sie. Judith trug einen schwarzen Wollrock, schwarze Schuhe und eine weiße Bluse; die Gürtelschnalle ihres Regenmantels schleifte auf dem Boden.
»Hallo Judith«, sagte Kaye ein wenig verlegen. Kushner griff nach der Tür, bat mit einem Blick gewissermaßen um die Erlaubnis einzutreten und trat ins Haus. Sie warf den Mantel ab und hängte ihn über einen stummen Diener aus Ahornholz.
»Mit Muster meine ich, dass ich acht Leute angerufen habe, die ich kenne, und Marge Cross hat sich mit allen in Verbindung gesetzt. Sie ist persönlich zu ihren Wohnungen gefahren — und hat immer gesagt, sie sei auf dem Weg zu irgendeiner geschäftlichen Besprechung. Immerhin wohnen fünf in der Nähe von New York, es ist also eine gute Ausrede.«
»Marge Cross — von Americol?«, fragte Kaye.
»Und von Euricol. Es würde mich nicht wundern, wenn sie auch in Übersee die Fäden zieht. Du lieber Gott, Kaye, sie ist ein großes Tier — Linda und Herb sind jetzt bei ihr. Und das sind nur die Ersten.«
»Bitte, Judith, mach mal ein bisschen langsam!«
»Fiona hat wie ein Mondkalb geguckt, als ich bei Cross abgesagt habe, ich schwöre es dir! Aber ich finde diese Konzernscheiße widerlich. Ich hasse sie wie die Pest. Kannst mich Sozialistin nennen — oder Kind der Sechziger …«
»Bitte«, sagte Kaye und hob die Hände, um den Wortschwall abzuwehren. »Wenn du weiter so wütend bist, dauert es noch ewig.«
Kushner hielt inne und starrte sie an. »Du bist schlau, meine Liebe. Du wirst schon wissen, was ich meine.«
Kaye dachte einen Augenblick nach. »Marge Cross und Americol wollen ein Stück vom SHEVAKuchen?«
»Sie bekommt nicht nur ihre Krankenhäuser voll, sondern sie kann sie auch direkt mit allen Medikamenten versorgen, die ›ihre‹
Arbeitsgruppe entwickelt. Therapieprogramme, exklusiv für Krankenversicherungen, die mit Americol verbunden sind. Dann gibt sie noch bekannt, dass sie ein hochkarätiges Team hat, und die Bewertung ihrer Firma geht durch die Decke.«