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»Und das haben Sie Augustine nicht gesagt?«

»Ich habe mich auf die klinischen Befunde gestützt, auf die aktuellen Berichte aus den Krankenhäusern … Was würde es schon für eine Rolle spielen, wenn ich SHEVA ein paar Jahre zurückverlege, und zwar höchstens zehn? Aber vor zwei Tagen habe ich ein paar Akten aus einem Krankenhaus in Tiflis bekommen. Ich habe dort einem jungen Assistenzarzt zu ein paar Kontakten in Atlanta verhelfen. Er hat mir von Leuten im Gebirge erzählt. Die Überlebenden eines anderen Massakers, dieses Mal vor sechzig Jahren.

Während des Krieges.«

»Die Deutschen sind nie bis Georgien gekommen«, sagte Kaye.

Dicken nickte. »Es war Stalins Armee. Sie haben ein einsames Dorf am Kazbeg fast völlig ausgelöscht. Vor zwei Jahren hat man ein paar Überlebende gefunden. Die Regierung in Tiflis schützt sie. Vielleicht hatten sie die Säuberungen satt, vielleicht … vielleicht wussten sie überhaupt nichts von Gordi oder von den anderen Dörfern.«

»Wie viele Überlebende?«

»Ein Arzt namens Leonid Sugashvili hat einen kleinen Privatkreuzzug zur Aufklärung unternommen. Seinen Bericht hat der Assistenzarzt mir geschickt — veröffentlicht wurde er nie. Aber er ist ziemlich gründlich. Zwischen 1943 und 1991 wurden nach seiner Schätzung in Georgien, Armenien, Abchasien und Tschetschenien insgesamt etwa dreizehntausend Männer, Frauen und sogar Kinder getötet. Man brachte sie um, weil jemand sie für die Überträger einer Krankheit hielt, die bei schwangeren Frauen eine Fehlgeburt verursacht. Wer die erste Säuberung überlebte, wurde später ausfindig gemacht … weil die Frauen mutierte Kinder zur Welt brachten. Kinder mit Flecken im ganzen Gesicht, mit seltsamen Augen, Kinder, die gleich nach der Geburt schon sprechen konnten. In manchen Dörfern übernahm die örtliche Polizei das Morden. Aberglaube ist schwer auszurotten. Den Männern und Frauen — Müttern und Vätern — wurde vorgeworfen, sie hätten sich mit dem Satan verbündet. So viele waren es nicht — über vierzig Jahre hinweg. Aber … Sugashvili vermutet, dass es solche Fälle auch schon vor Jahrhunderten gegeben hat. Zehntausende von Morden. Schuldgefühle, Scham, Unwissen, Schweigen.«

»Glauben Sie, die Kinder sind wegen SHEVA mutiert?«

»Nach dem ärztlichen Bericht behaupteten viele der getöteten Frauen, sie hätten die sexuellen Beziehungen zu ihren Ehemännern oder Geliebten völlig eingestellt. Sie wollten keine Satanskinder zur Welt bringen. Sie hatten von den mutierten Kindern in anderen Dörfern gehört, und nachdem sie Fieber und eine Fehlgeburt gehabt hatten, wollten sie nicht noch einmal ein Kind. Aber fast alle Frauen waren dreißig Tage nach der Fehlgeburt wieder schwanger, ganz gleich, was sie getan oder gelassen hatten. Das Gleiche, was jetzt auch manche Krankenhäuser bei uns berichten.«

Kaye schüttelte den Kopf. »Das ist so völlig unglaublich!«

Dicken zuckte die Achseln. »Es wird auch nicht glaubhafter oder einfacher werden. Ich bin schon seit einiger Zeit überzeugt, dass SHEVA keine Krankheit im üblichen Sinne ist.«

Kaye presste die Lippen zusammen. Sie stellte ihre Kaffeetasse ab und verschränkte die Arme; ihr fiel die Unterhaltung mit Drew Miller in dem Restaurant in Boston ein, und wie Saul gesagt hatte, es sei an der Zeit, sich mit Evolution zu befassen. »Vielleicht ist es ein Zeichen«, sagte sie.

»Was für ein Zeichen?«

»Ein Schlüssel, der eine abgelegte genetische Information zugänglich macht, die Anweisungen für einen neuen Phänotyp.«

»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz«, sagte Dicken mit gerunzelter Stirn.

»Irgendetwas hat sich über Tausende, über Zehntausende von Jahren angesammelt. Vermutungen, Hypothesen, die mit diesem oder jenem Merkmal zu tun haben, Weiterentwicklungen eines ziemlich starren Bauplans.«

»Wozu?«, fragte Dicken.

»Evolution.«

Dicken schob seinen Stuhl zurück und legte die Hände auf die Schenkel. »Oha.«

»Sie haben selbst gesagt, es ist keine Krankheit«, erinnerte ihn Kaye.

»Ich habe gesagt, es ist keine Krankheit, wie ich sie kenne.

Aber es ist immerhin ein Retrovirus.«

»Sie haben doch meine Artikel gelesen, oder?«

»Ja.«

»Da habe ich ein paar Anspielungen fallen lassen.«

Dicken überlegte. »Ein Katalysator.«

»Er produziert es, wir bekommen es, wir leiden«, sagte Kaye.

Dicken errötete. »Ich versuche, keine MännerFrauenGeschichte daraus zu machen«, sagte er. »Von der Sorte haben wir ohnehin schon zu viel.«

»Tut mir Leid«, sagte Kaye. »Vielleicht versuche ich nur, die eigentliche Frage zu umgehen.«

Dicken war offenbar zu einer Entscheidung gelangt. »Ich überschreite jetzt meine Kompetenzen und zeige Ihnen etwas.« Er wühlte in seiner Reisetasche und brachte den Ausdruck einer EMail aus Atlanta zum Vorschein. Am Ende der Nachricht waren vier kleine Bilder angefügt.

»In der Nähe von Atlanta ist eine Frau durch einen Autounfall ums Leben gekommen. Bei der Obduktion im Northside Hospital stellte einer unserer Pathologen fest, dass sie im ersten Schwangerschaftsdrittel war. Er untersuchte das Ungeborene — eindeutig ein HerodesFetus. Dann untersuchte er die Gebärmutter der Frau.

Dort fand er an der Plazentabasis eine zweite, sehr frühe Schwangerschaft. Sie war durch eine dünne Schicht Laminagewebe geschützt. Die Plazenta hatte sich bereits abgelöst, aber die zweite Eizelle war unversehrt. Sie hätte die Fehlgeburt überlebt. Und einen Monat später …«

»Ein Enkelkind«, sagte Kaye. »Abgegeben von der …«

»Zwischentochter. Eigentlich nur von einem spezialisierten Eierstock. Der erzeugt eine zweite Eizelle, und die nistet sich in der Gebärmutterwand der Mutter ein.«

»Und was ist, wenn ihre Eizellen, die Eizellen der Tochter, anders sind?«

Dicken hatte mittlerweile einen trockenen Hals und musste husten. »Entschuldigung.« Er stand auf und holte sich einen Becher Wasser; dann kam er zwischen den Tischen zurück und setzte sich neben Kaye.

Ganz langsam fuhr er fort. »SHEVA sorgt für die Ausschüttung eines Polyproteinkomplexes, der im Cytosol außerhalb des Zellkerns zerfällt. LH, FSH, Prostaglandine.«

»Ich weiß. Judith Kushner hat es mir erzählt«, sagte Kaye mit schwacher Stimme. »Manche davon sind die Auslöser der Fehlgeburt. Andere könnten die Eizelle beträchtlich verändern.«

»Mutationen?«, fragte Dicken, der immer noch an den Trümmern der alten Lehrmeinung hing.

»Ich weiß nicht genau, ob das der richtige Ausdruck ist«, erwiderte Kaye. »Es klingt so bösartig und zufällig. Nein. Wahrscheinlich haben wir es mit einer anderen Art der Fortpflanzung zu tun.«

Dicken trank seinen Becher Wasser leer.

»So etwas ist mir nicht ganz neu«, grübelte Kaye leise. Sie ballte die Fäuste, um dann leicht und nervös mit den Knöcheln auf die Tischplatte zu klopfen. »Wollen Sie behaupten, dass SHEVA ein Teil unserer Evolution ist? Dass wir dabei sind, eine neue Art von Menschen hervorzubringen?«

Dicken sah Kaye prüfend an, registrierte die Mischung aus Staunen und Erregung in ihrem Gesicht, das seltsame Entsetzen, das einen überwältigt, wenn man auf die geistige Entsprechung zu einem wütenden Tiger stößt. »Ich würde nicht wagen, es so krass zu formulieren. Aber vielleicht bin ich ein Feigling. Vielleicht ist es wirklich so ähnlich. Ich schätze Ihre Meinung sehr. Jetzt kann ich weiß Gott eine Verbündete gebrauchen.«

Kaye schlug das Herz bis zum Hals. Sie griff nach ihrer Kaffeetasse, und die kalte Brühe schwappte. »Mein Gott, Christopher.«

Sie gab ein leises, hilfloses Lachen von sich. »Und wenn es stimmt?

Wenn wir alle schwanger sind? Die ganze Menschheit?«