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TEIL 2

SHEVA-Frühling

36

Im Osten des Staates Washington

Breit und träge glitt der Columbia River wie plattgewalzte polierte Jade zwischen den schwarzen Basaltwänden dahin.

Mitch bog von der Staatsstraße 14 ab, fuhr einen knappen Kilometer auf einem Erd- und Schotterweg zwischen Buschwerk und kleinen Bäumen hindurch und kam schließlich an ein verbogenes, rostiges Metallschild mit der Aufschrift EISENHÖHLE.

Nur wenige Meter vom Rand der Schlucht entfernt glänzten zwei alte Aluminiumwohnwagen in der Sonne. Um sie herum standen hölzerne Bänke und Tische, auf denen sich Jutesäcke und Grabwerkzeuge stapelten. Er parkte den Wagen am Straßenrand.

An seinem FilzStetson zerrte ein kühler Wind. Er griff mit einer Hand nach dem Hut, ging vom Auto zu der Felskante und blickte fünfzehn Meter tief auf Eileen Rippers Lager hinab.

Aus der Tür des am nächsten stehenden Wohnwagens trat eine kleine, junge Frau mit blonden Haaren, ausgefransten, verblichenen Jeans und einer braunen Lederjacke. In der feuchten Luft am Fluss stieg ihm sofort ihr Duft in die Nase: Opium, Trouble oder ein ähnliches Parfüm. Sie hatte eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Tilde.

Die Frau blieb unter dem Vordach des Wagens stehen, trat dann vor und schützte die Augen mit der Hand vor der Sonne.

»Mitch Rafelson?«, fragte sie.

»Genau der. Ist Eileen da unten?«

»Ja. Wissen Sie, es löst sich alles auf.«

»Seit wann?«

»Seit drei Tagen. Eileen hat sich wirklich Mühe gegeben, ihre Position zu vertreten, aber langfristig hat es nicht viel genützt.«

Mitch grinste verständnisvoll. »Das kenne ich«, sagte er.

»Die Frau von den Fünf Stämmen hat vorgestern ihre Sachen gepackt. Deshalb fand Eileen es jetzt in Ordnung, dass Sie herkommen. Es spielt niemand mehr verrückt, wenn Sie auftauchen.«

»Schön, wenn man so beliebt ist«, sagte Mitch und tippte sich an den Hut.

Die Frau lächelte. »Eileen ist am Boden zerstört. Machen Sie ihr ein bisschen Mut. Für mich sind Sie ein Held. Außer was diese Mumien angeht, vielleicht.«

»Wo ist sie?«

»Gleich unterhalb der Höhle.«

Oliver Merton saß im Schatten des größten Zeltdaches auf einem Klappstuhl. Er war etwa dreißig, hatte leuchtend rote Haare, eine kurze Himmelfahrtsnase und ein breites, blasses Gesicht, das jetzt den Ausdruck völliger, fast fanatischer Konzentration zeigte. Während er mit den beiden Zeigefingern die Tastatur seines Laptops bearbeitete, zog er die Lippen zurück.

Adler-Suchsystem, dachte Mitch, ein Autodidakt im Tippen. Prüfend betrachtete er die Kleidung des Mannes, die an einer Grabungsstätte eindeutig deplatziert wirkte: Tweedhose, rote Hosenträger, weißes LeinenBusinesshemd mit gestreiftem Kragen.

Merton blickte erst auf, als Mitch schon fast unter dem Zeltdach stand.

»Mitchell Rafelson! Wie schön!« Merton schob den Computer auf den Tisch, sprang auf und streckte ihm die Hand hin. »Verdammt düster hier. Eileen ist oben an der Böschung bei den Grabungen. Sie will Ihnen sicher guten Tag sagen. Gehen wir?«

Die sechs anderen Mitarbeiter, alles junge Praktikanten oder Doktoranden, blickten neugierig auf, als die beiden Männer an ihnen vorübergingen. Merton kletterte vor Mitch über die natürlichen Terrassen, die der Fluss in Jahrhunderten der Erosion geschaffen hatte. Zwanzig Meter unterhalb der Klippe, wo die alte, moderige Höhle eine frei liegende Basaltschicht unterbrach, machten sie eine Pause. Oberhalb des zutage tretenden Gesteins und östlich davon war eine verwitterte Gesteinsschicht abgestürzt; die großen Brocken verteilten sich über den ganzen Abhang bis zum Flussufer.

Eileen Ripper stand am Westrand des Abhanges vor einer mit Pfosten markierten Reihe exakt gegrabener, quadratischer Gruben, die mit einem topometrischen Gitternetz aus Drähten und Seilen versehen waren. Sie war Ende vierzig, klein und dunkel, mit tief liegenden, schwarzen Augen und einer schmalen Nase; auffällig schön waren ihre üppigen Lippen, die einen reizvollen Kontrast zu dem kurzen, ungebändigten Schopf aus graumelierten Haaren bildeten.

Auf Mertons Ruf hin drehte sie sich um. Sie lächelte aber nicht und rief auch nicht zurück, sondern setzte eine entschlossene Miene auf, stieg behutsam die Böschung hinunter und streckte Mitch die Hand hin. Er schüttelte sie energisch.

»Gestern früh sind die Radiokarbonbefunde gekommen«, sagte sie. »Sie sind dreizehntausend Jahre alt, plusminus fünfhundert … und wenn sie viel Lachs gegessen haben, sind sie zwölftausendfünfhundert Jahre alt. Aber die Leute von den Fünf Stämmen behaupten, die westliche Wissenschaft würde sie ihrer letzten Würde berauben. Ich dachte, ich könnte vernünftig mit ihnen reden.«

»Zumindest hast du dir Mühe gegeben«, sagte Mitch.

»Ich muss mich entschuldigen, dass ich dich so hart verurteilt habe, Mitch. Ich habe lange die Nerven behalten, obwohl es schon kleinere Anzeichen für Schwierigkeiten gab, und dann kommt diese Frau, Sue Champion … ich dachte, wir wären Freundinnen.

Sie berät die Stämme. Gestern kam sie hier mit zwei Männern an.

Die Männer waren so … so blasiert, Mitch. Wie kleine Jungen, von denen einer höher pissen kann als der andere. Und dann sagen sie mir, ich würde Befunde fälschen, um meine Lügen zu begründen. Sie sagen, sie hätten Recht und Gesetz auf ihrer Seite.

Unser alter Fluch, das NAGPRA.«

Die Abkürzung bedeutete Native American Graves Protection and Repatriation Act — Gesetz zum Schutz und zur Repatriierung der Gräber amerikanischer Ureinwohner. Mitch war mit seinen Vorschriften in allen Einzelheiten vertraut.

Merton stand auf der rutschigen Böschung, versuchte, nicht abzugleiten, und ließ kleine, scharfe Blicke zwischen ihnen hin- und herwandern.

»Was für Befunde hast du denn gefälscht?«, fragte Mitch leichthin.

»Mach’ keine Witze.« Aber Rippers Gesicht entspannte sich, und sie hielt Mitchs Hand zwischen den ihren. »Wir haben Kollagen aus den Knochen entnommen und nach Portland geschickt.

Dort haben sie eine DNAAnalyse gemacht. Unsere Knochen gehören zu einer anderen Population. Mit den heutigen Indianern sind sie überhaupt nicht verwandt, und zu der Mumie von Spirit Cave besteht nur eine entfernte Beziehung. Weiße, wenn wir diesen ungenauen Ausdruck verwenden wollen. Aber wohl nicht nordisch. Eher Ainu, glaube ich.«

»Das ist ja von historischer Bedeutung, Eileen«, sagte Mitch.

»Großartig. Herzlichen Glückwunsch!«

Nachdem Ripper einmal zu reden angefangen hatte, konnte sie offenbar nicht mehr aufhören. Sie gingen den Pfad hinunter zu den Zelten. »Wir können sie nicht einmal ansatzweise mit den heutigen Rassen vergleichen. Deshalb ist es so empörend! Wir lassen zu, dass unsere verdrehten Vorstellungen von Rasse und Identität die Wahrheit vernebeln. Die Bevölkerungsgruppen waren damals völlig anders. Aber die heutigen Indianer stammen nicht von den Menschen ab, zu denen unsere Skelette gehören. Vielleicht standen sie in Konkurrenz zu den Vorfahren der Indianer und haben verloren.«

»Die Indianer haben gewonnen?«, fragte Merton. »Darüber müssten sie sich doch eigentlich freuen.«

»Sie glauben, ich wollte sie politisch auseinander dividieren. Wie es wirklich war, interessiert sie nicht. Sie wollen ihre eigene kleine Traumwelt und scheißen auf die Wahrheit.«

»Wem sagst du das?«, fragte Mitch.

Ripper lächelte unter den Tränen der Enttäuschung und Erschöpfung. »Man hat den Fünf Stämmen geraten, sie sollten sich an das Bundesgericht in Seattle wenden, um die Skelette zu bekommen.«

»Wo sind die Knochen jetzt?«

»In Portland. Wir haben sie auf der Stelle verpackt und gestern abtransportiert.«