»Über die Staatsgrenze?«, fragte Mitch. »Das ist Kidnapping.«
»Besser als herumzusitzen und auf eine Horde Anwälte zu warten.« Sie schüttelte den Kopf, und Mitch legte ihr den Arm um die Schultern. »Ich wollte doch alles richtig machen, Mitch.« Sie wischte sich mit der staubigen Hand über die Wange, sodass Schmutzstreifen zurückblieben, und presste ein Lachen heraus.
»Jetzt sind sogar die Wikinger sauer auf uns!«
Die Wikinger — eine kleine Gruppe von Männern meist mittleren Alters, die sich selbst »Nordische Verehrer Odins in der Neuen Welt« nannten — waren Jahre zuvor auch zu Mitch gekommen, um ihre Zeremonien abzuhalten. Sie hatten gehofft, er könne ihre Behauptung beweisen, wonach Entdecker aus dem Norden vor Jahrtausenden große Teile Nordamerikas besiedelt hatten. Mitch mit seinem Hang zur Philosophie hatte ihnen gestattet, über den noch in der Erde liegenden Knochen des Pasco-Menschen ein Ritual zu feiern, aber letztlich musste er sie enttäuschen. Der Pasco-Menschen war in Wirklichkeit durch und durch Indianer, ein enger Verwandter der Südlichen Nadene.
Auch nachdem Ripper ihre Skelette untersucht hatte, waren die OdinVerehrer enttäuscht wieder abgezogen. In einer Welt, in der die Selbstgerechtigkeit leicht Risse erhalten konnte, wollte niemand gern die Wahrheit hören.
Als das Tageslicht schwand, brachte Merton eine Flasche Sekt, vakuumverpackten Lachs, frisches Brot und Käse zum Vorschein.
Ein paar von Rippers Studenten schichteten ein großes Lagerfeuer auf, das am Ufer knackte und knisterte, als Mitch und Eileen auf ihre gegenseitige Verrücktheit tranken.
»Woher haben Sie das Essen?«, fragte Ripper, als Merton die abgeschabten Plastikteller aus dem Lager auf dem rohen Kiefernholztisch unter dem größten Zeltdach verteilte.
»Vom Flughafen«, sagte Merton. »Der einzige Ort, an dem ich schnell etwas besorgen konnte. Brot, Käse, Fisch, Wein … was will man mehr? Allerdings könnte ich ein gutes Glas Bier gebrauchen.«
»Ich habe Coors im Wohnwagen«, erklärte ein stämmiger Praktikant mit schütterem Haar.
»Gräberfrühstück«, sagte Mitch zustimmend.
»Verschonen Sie mich damit«, erwiderte Merton. »Und bitte entschuldigen Sie, wenn ich überall nachgraben will. Jeder hat etwas zu berichten.« Ripper reichte ihm einen Plastikbecher mit Sekt. »Über Rasse und Zeit und Wanderungsbewegungen und was es heißt, ein Mensch zu sein. Wer möchte als Erster?«
Mitch wusste, dass er nur ein paar Sekunden schweigen musste, damit Ripper den Anfang machte. Als sie über die drei Skelette und die Lokalpolitik sprach, machte Merton sich Notizen. Eineinhalb Stunden später wurde es empfindlich kalt, und sie rückten näher ans Feuer.
»Die AltaiStämme haben etwas dagegen, dass Russen ihre Toten ausgraben«, sagte Merton. »Überall setzen sich die eingeborenen Volksgruppen zur Wehr. Ein Schlag auf die Finger der unterdrückerischen Kolonialherren. Glauben Sie, dass die Sprecher der Neandertaler schon dabei sind, in Innsbruck ihre Wachtposten aufzustellen?«
»Niemand will ein Neandertaler sein«, warf Mitch trocken ein, »außer mir.« Er wandte sich zu Eileen. »Ich habe von ihnen geträumt. Von meiner kleinen Kernfamilie.«
»Wirklich?« Eileen beugte sich verblüfft nach vorn.
»Ich habe geträumt, dass ihr Volk auf einem großen Floß auf einem See gelebt hat.«
»Vor fünfzehntausend Jahren?«, fragte Merton und hob eine Augenbraue.
Mitch hörte aus dem Tonfall des Journalisten etwas heraus und sah ihn argwöhnisch an. »Vermuten Sie das,«, fragte er, »oder haben die dort eine Datierung?«
»Keine, die sie an die Öffentlichkeit bringen«, sagte Merton und rümpfte die Nase. »Aber ich habe einen Kontaktmann an der Universität … und der sagt, sie hätten sich definitiv auf fünfzehntausend Jahre geeinigt. Das heißt« — er lächelte Ripper an — »wenn sie nicht gerade sehr viel Fisch gegessen haben.«
»Was sonst noch?«
Merton gestikulierte dramatisch. »Boxkämpfe«, sagte er. »Wütende Streitereien hinter verschlossenen Türen. Ihre Mumien widersprechen allem, was man bisher in Anthropologie und Archäologie wusste. Ein paar in der Arbeitsgruppe behaupten, sie seien keine Neandertaler im strengen Sinn; ein Wissenschaftler bezeichnet sie als neue Unterart Homo sapiens alpinensis. Ein anderer schwört Stein und Bein, sie seien grazile, späte Neandertaler, die in großen Gruppen lebten, allmählich weniger stämmig und robust wurden und mehr wie Sie und ich aussahen. Und was den Säugling angeht, suchen sie verzweifelt nach einer Ausrede.«
Mitch senkte den Kopf. Sie empfinden es nicht so wie ich. Sie wissen es nicht so wie ich. Dann lehnte er sich zurück und verdrängte seine Gefühle. Er musste sich ein gewisses Maß an Objektivität bewahren.
Merton wandte sich an Mitch. »Haben Sie das Baby gesehen?«
Mettons Augen verengten sich, als Mitch sich ruckartig in seinem Stuhl aufrichtete. »Nicht genau«, sagte er. »Ich habe nur gedacht, als sie sagten, es sei ein Jetztmenschenkind, dass …«
»Könnte es sein, dass die Neandertalermerkmale in den Zügen eines Säuglings noch nicht ausgeprägt sind?«, wollte Merton wissen.
»Nein«, sagte Mitch und fügte augenzwinkernd hinzu: »Jedenfalls glaube ich es nicht.«
»Das glaube ich auch nicht«, stimmte Ripper zu. Die Studenten waren eng herangerückt, um nichts zu verpassen. Das Feuer knackte, zischte und streckte lange gelbe Arme aus, die nach dem kalten, lautlosen Himmel griffen. Der Fluss klatschte auf die Uferkiesel, es klang so, als lecke ein mechanischer Spielzeughund an einer Hand. Mitch spürte, wie der Sekt ihn nach der langen, anstrengenden Autofahrt allmählich beruhigte.
»Nun ja, es mag wenig plausibel klingen, aber es ist immer noch einfacher als einen genetischen Zusammenhang zu bestreiten«, sagte Merton. »Die Leute in Innsbruck müssen mehr oder weniger einräumen, dass die Frau und der Säugling verwandt sind. Aber es sind recht schwer wiegende Anomalien vorhanden, die niemand erklären kann. Ich hatte gehofft, Mitchell würde mir die Erleuchtung verschaffen.«
Es blieb Mitch erspart, Unkenntnis vorzutäuschen, denn vom oberen Rand der Klippe hörte man die kräftige Stimme einer Frau.
»Eileen? Bist du da? Hier ist Sue Champion.«
»Mist«, sagte Ripper, »ich dachte, sie wäre längst wieder in Kumash.« Sie legte die Hände um den Mund und rief nach oben:
»Wir sind hier unten, Sue, und schon halb betrunken. Willst du zu uns kommen?«
Ein Student lief mit einer Taschenlampe den schmalen Weg die Klippe hinauf. Sue Champion kam hinter ihm herunter zum Zelt.
»Hübsches Feuer«, bemerkte sie. Die schlanke, fast schon dünne und über einen Meter achtzig große Frau, deren lange schwarze Haare in einem Zopf über die Schulter ihrer braunen Cordjacke fielen, wirkte klug, chic und ein wenig befangen. Sie schien gern zu lächeln, aber jetzt war ihr Gesicht von Müdigkeit gezeichnet.
Mitch blickte zu Ripper hinüber und sah das Unbehagen in ihrem Gesichtsausdruck.
»Ich bin hier, um zu sagen, dass es mir Leid tut«, erklärte Champion.
»Es tut uns allen Leid«, erwiderte Ripper.
»Seid ihr den ganzen Abend hier draußen gewesen? Es ist kalt.«
»Wir sind pflichtbewusst.«
Champion umrundete das Zeltdach und trat nahe ans Feuer.
»Mein Büro hat deinen Anruf wegen der Testergebnisse entgegengenommen. Der Vorsitzende des Treuhändergremiums nimmt dir den Befund nicht ab.«
»Daran kann ich nichts ändern«, sagte Ripper. »Warum bis du plötzlich abgehauen und hast mir deinen Anwalt auf den Hals gehetzt? Ich dachte, wir hätten eine Abmachung — im Falle, dass es sich um Indianer handelt, wollten wir eine grundlegende Untersuchung mit einem Minimum an Eingriffen vornehmen und sie anschließend den Fünf Stämmen übergeben.«