Выбрать главу

»Wir haben in unserer Wachsamkeit nachgelassen. Nach dem Durcheinander wegen des Pasco-Menschen waren wir erschöpft.

Es war falsch.« Wieder sah sie Mitch an. »Ich kenne Sie.«

»Mitch Rafelson«, sagte er und hielt ihr die Hand hin.

Champion nahm sie nicht. »Sie haben uns ganz schön auf Trab gehalten, Mitch Rafelson.«

»Das gleiche Gefühl habe ich auch«, sagte Mitch.

Champion zuckte die Achseln. »Unsere Leute haben entgegen ihren tiefsten Empfindungen nachgegeben. Wir fühlten uns überfahren. Wir brauchen die Leute in Olympia, und das letzte Mal haben wir sie verärgert. Die Treuhänder haben mich hierher geschickt, weil ich eine Ausbildung in Anthropologie habe. Ich habe meine Sache nicht besonders gut gemacht. Jetzt sind alle sauer.«

»Können wir noch irgendetwas außergerichtlich tun?«, fragte Ripper.

»Der Vorsitzende hat mir gesagt, Wissen sei es nicht wert, dass man dafür die Toten stört. Du hättest den Schmerz bei der Versammlung sehen sollen, als ich die Untersuchungen beschrieben habe.«

»Ich dachte, wir hätten das ganze Verfahren erklärt«, sagte Ripper.

»Überall stört ihr die Toten. Wir fordern nur, dass ihr unsere Toten in Ruhe lasst.«

Die Frauen starrten einander traurig an.

»Es sind nicht eure Toten, Sue«, sagte Ripper mit Tränen in den Augen. »Sie gehören nicht zu eurem Volk.«

»Der Rat ist der Ansicht, dass das NAGPRA trotzdem gilt.«

Ripper hob die Hand. »Dann können wir nichts anderes tun, als noch mehr Geld für Anwälte auszugeben.«

»Nein. Diesmal gewinnt ihr«, sagte Champion. »Wir haben jetzt andere Sorgen. Viele unserer jungen Mütter haben die Herodes-Grippe.« Sie fuhr mit einer Hand über das Zeltdach. »Manche von uns dachten, es würde sich auf die großen Städte beschränken, auf die Weißen, aber wir haben uns geirrt.«

Im flackernden Feuerschein funkelten Menons Augen wie zudringliche kleine Kameralinsen.

»Das tut mir Leid, Sue«, sagte Ripper. »Meine Schwester hat auch die Herodes-Grippe.« Sie stand auf und legte Champion die Hand auf die Schulter. »Bleib’ noch ein bisschen. Wir haben heißen Kaffee und Kakao.«

»Nein, danke. Der Rückweg ist weit. Wir werden uns eine Zeit lang nicht mit den Toten aufhalten können. Wir müssen uns um die Lebenden kümmern.« In ihren Gesichtszügen ging eine kleine Veränderung vor. »Manche, die zuhören können, zum Beispiel mein Vater und meine Großmutter — die sagen, du hättest etwas Interessantes herausgefunden.«

»Grüße sie von mir, Sue«, sagte Ripper.

Champion musterte Mitch von oben bis unten. »Menschen kommen und gehen. Wir alle kommen und gehen. Anthropologen wissen das.«

»Allerdings«, sagte Mitch.

»Es den anderen zu erklären, wird schwierig werden«, sagte Champion. »Ich werde euch mitteilen, welche Entscheidungen unsere Leute wegen der Krankheit getroffen haben und ob sie ein Mittel dagegen kennen. Vielleicht können wir deiner Schwester helfen.«

»Danke«, sagte Ripper.

Champion sah sich in der Runde unter dem Zeltdach um, nickte energisch und zeigte dann mit ein paar kleineren Kopfbewegungen an, dass sie alles gesagt hatte und gehen wollte. Von dem stämmigen Praktikanten mit der Taschenlampe begleitet, stieg sie den Pfad zum Klippenrand hoch.

»Außergewöhnlich«, sagte Merton, dessen Augen immer noch funkelten. »Großartige Einsichten. Vielleicht sogar die Weisheit der eingeborenen Volksgruppen.«

»Nehmen Sie es nicht zu wörtlich«, sagte Ripper. »Sue ist ein lieber Mensch, aber was eigentlich los ist, weiß sie ebenso wenig wie meine Schwester.« Dann wandte sie sich zu Mitch. »Du liebe Güte, du siehst krank aus«, sagte sie.

Mitch fühlte sich tatsächlich ein wenig mulmig.

»Den gleichen Gesichtsausdruck habe ich bei Kabinettsmitgliedern gesehen«, warf Merton leise ein. »So sehen sie aus, wenn sie mit allzu vielen Geheimnissen vollgestopft sind.«

37

Baltimore

Kaye nahm ihre kleine Tasche vom Rücksitz des Taxis und zog ihre Kreditkarte durch das Lesegerät auf der Fahrerseite. Dann verrenkte sie sich den Hals, um Uptown Helix zu betrachten, das neueste Wohnhochhaus von Baltimore — dreißig Stockwerke, aufgetürmt über zwei breiten Vierecken mit Läden und Theatern, und alles im Schatten des BromoSeltzer Tower.

Auf dem Bürgersteig lagen Matschbrocken, Reste des morgendlichen Schneegestöbers. Kaye schien es, als würde der Winter ewig dauern.

Cross hatte ihr gesagt, die Wohnung in der zwanzigsten Etage sei vollständig möbliert, man werde ihre Habseligkeiten hinüberbringen, im Kühlschrank und in der Speisekammer werde sie etwas zu essen vorfinden, und unten habe sie in mehreren Restaurants ein Stammgästekonto: alles, was sie sich wünschte und brauchte, ein Zuhause nur drei Blocks von der AmericolFirmenzentrale entfernt.

Kaye meldete sich beim Pförtner der Bewohnerlobby an. Er lächelte, wie Diener reiche Leute anlächeln, und gab ihr einen Umschlag mit dem Schlüssel. »Es gehört mir nicht«, sagte sie.

»Geht mich nicht das Geringste an, Ma’am«, erwiderte er mit der gleichen fröhlichen Unterwürfigkeit.

Während sie mit dem eleganten Aufzug aus Stahl und Glas von der Halle mit den Geschäften zu den Wohnetagen hinauf fuhr, trommelte sie mit den Fingern auf den Haltegriff. Sie war allein in der Kabine. Ich bin beschützt, ich bin versorgt, ich bin mit einer Besprechung nach der anderen beschäftigt, ich habe keine Zeit zum Nachdenken. Ich frage mich, wer ich eigentlich noch bin.

Sie bezweifelte, dass ein Wissenschaftler sich schon einmal so hektisch gefühlt hatte wie sie. Durch die Unterhaltung mit Christopher Dicken an den CDC war sie auf ein Seitengleis geraten, das mit der eigentlichen Entwicklung einer SHEVATherapie recht wenig zu tun hatte. Hundert verschiedene Aspekte der Forschungsarbeiten, die sie seit ihrer Doktorandenzeit geleistet hatte, waren plötzlich an die Oberfläche ihres Denkens gestiegen, wirbelten durcheinander wie die Schwimmer in einem Wasserballett und bildeten wunderbare Muster. Diese Muster hatten nichts mit Krankheit und Tod zu tun, aber sehr viel mit den Kreisläufen des menschlichen Lebens — oder überhaupt jeden Lebens.

Ihr blieben nur knapp zwei Wochen: Dann würden Cross’ Wissenschaftler den ersten potenziellen Impfstoff vorstellen, einen von — nach der letzten Zählung — zwölf, die im ganzen Land bei Americol und anderswo entwickelt wurden. Kaye hatte unterschätzt, wie schnell man bei Americol arbeiten konnte — und sie hatte überschätzt, inwieweit man sie auf dem Laufenden halten würde.

Noch immer bin ich nichts als eine Galionsfigur, dachte sie.

In der Zwischenzeit musste sie herausfinden, was sich eigentlich abspielte — was SHEVA tatsächlich war. Was mit Mrs. Hamilton und den anderen Frauen in der NIHKlinik letztlich geschehen würde.

Auf der zwanzigsten Etage stieg sie aus, fand die Wohnung Nummer 2011, steckte den elektronischen Schlüssel ins Schloss und öffnete die schwere Tür. Zur Begrüßung wehte ihr ein Schwall sauberer, kühler Luft entgegen, die nach neuen Teppichen und Farbe, aber auch nach etwas BlumigSüßem roch. Sanfte Musik setzte ein: Debussy — an den Namen des Stückes konnte sie sich nicht erinnern, aber es gefiel ihr sehr.

Auf dem niedrigen Regal im Flur stand ein üppiger Strauß in einer Kristallvase: mehrere Dutzend gelbe Rosen.

Die Wohnung, ausgestattet mit eleganten hölzernen Accessoires, hübsch mit zwei Sofas und einem Sessel in Wildleder und altgoldenem Stoff möbliert, wirkte hell und heiter. Debussy inbegriffen.

Sie ließ die Tasche auf eine Couch fallen und ging in die Küche.

Edelstahlkühlschrank, Herd, Geschirrspülmaschine, Arbeitsplatten aus grauem Granit mit rosa Marmoreinfassung, teure, edelsteinartige Niedervoltlampen, die den Raum mit kleinen, diamantenen Leuchtfeuern füllten …