»Ich bin ziemlich allein«, sagte Mitch in das Schweigen hinein, »und ich brauche jemanden, der mir sagt, dass ich nicht völlig verrückt bin.«
»Ja«, erwiderte Dicken, »das Gefühl kenne ich.« Er verzog das Gesicht und stampfte mit dem Fuß auf den Boden, weil er wusste, dass diese Sache ihm noch mehr Schwierigkeiten bereiten würde als alle Windmühlen, gegen die er bisher gekämpft hatte. Dann sagte er: »Sprechen Sie weiter, Mitch.«
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San Diego, Kalifornien
28. März
Der Name der internationalen Tagung, der in schwarzen Kunststoffbuchstaben auf der Ankündigungstafel des Konferenzzentrums stand, verursachte bei Dicken einen kurzen Schauer der Erregung — kurz und dringend notwendig. Was die gute alte Arbeitszufriedenheit betraf: Da hatte ihn in den letzten Monaten kaum etwas sonderlich stimuliert, aber der Titel der Konferenz schaffte es mühelos:
KONTROLLE DER VIRALEN UMWELT:
NEUE WEGE ZUR BEKÄMPFUNG VON VIRUSERKRANKUNGEN
Der Titel war weder übertrieben optimistisch, noch entbehrte er jeder Grundlage. In ein paar Jahren würde die Welt vielleicht keinen Virusjäger wie Christopher Dicken mehr brauchen.
Nur standen sie alle vor dem gleichen Problem: In Zeiten der Krankheit können ein paar Jahre sehr lang sein.
Dicken trat aus dem Schatten des Vordaches über dem Eingang und genoss die strahlende Sonne auf dem Bürgersteig. So warmes Wetter hatte er seit Kapstadt nicht mehr erlebt, und es gab ihm einen heftigen Energieschub. In Atlanta wurde es endlich warm, aber den Osten hatte die Kälte noch fest im Griff — in den Straßen von Baltimore und Bethesda lag Schnee.
Mark Augustine war schon da; er wohnte im Gästehaus der Regierung, weit weg von der Mehrzahl der fünftausend erwarteten Teilnehmer, von denen die meisten die Hotels am Meer füllten.
Dicken hatte seine Tagungsunterlagen — ein dickes, spiralgebundenes Buch mit einer BegleitDVDROM — bereits heute Morgen in Empfang genommen, um sich einen ersten Eindruck vom Ablauf zu verschaffen.
Morgen früh sollte Marge Cross einen Vortrag über Grundsätzliches halten. Dicken würde an fünf Podiumsdiskussionen teilnehmen, von denen zwei sich mit SHEVA befassten. Kaye Lang sollte in einer davon sowie in sieben weiteren ebenfalls anwesend sein und außerdem im Plenum der Forschungsgruppe zur weltweiten Ausrottung der Retroviren, die im Rahmen der Konferenz tagte, einen Vortrag halten.
Die Presse pries den RibozymImpfstoff von Americol bereits als wichtigen Durchbruch. In der PetriSchale machte er einen guten, ja sogar sehr guten Eindruck, aber die Erprobung an Menschen hatte noch nicht einmal begonnen. Augustine wurde von Shawbeck stark unter Druck gesetzt, Shawbeck stand unter starkem Druck der Regierung, und alle fassten Cross nur mit spitzen Fingern an.
Dicken spürte, dass acht verschiedene Katastrophen in der Luft lagen.
Von Mitch Rafelson hatte er schon seit ein paar Tagen nichts mehr gehört, aber er nahm an, dass der Anthropologe bereits eingetroffen war. Sie hatten sich noch nicht persönlich kennen gelernt, aber die Verschwörung lief. Kaye hatte sich bereit erklärt, heute Abend oder morgen zu ihnen zu stoßen und mit ihnen zu reden, je nachdem, wann Cross’ Leute sie nach einer Reihe von PublicRelationsInterviews freigeben würden.
Sie mussten einen Ort abseits aller neugierigen Blicke finden.
Dicken war der Ansicht, dass man sich dazu am besten ins Zentrum des Geschehens begab, und hatte zu diesem Zweck eine zweite Tasche mit leerem Tagungsanhänger und Programmheft mitgebracht — nur »Gast der CDC« stand darauf.
Kaye ging durch die belebte Halle und ließ die Blicke nervös von einem Gesicht zum anderen wandern. Sie fühlte sich wie eine Spionin in einem schlechten Film, die ihre wahren Gefühle und erst recht ihre Ansichten verbergen muss — allerdings wusste sie im Augenblick auch selbst kaum, was sie denken sollte. Sie war fast den ganzen Nachmittag oben in der Suite — oder besser gesagt der Etage — von Marge Cross gewesen und hatte sich mit männlichen und weiblichen Abgesandten der hundertprozentigen Tochterfirmen, Professoren der University of California in San Diego und dem Bürgermeister der Stadt getroffen.
Marge hatte sie beiseite genommen und ihr für das Ende der Tagung noch wichtigere Persönlichkeiten in Aussicht gestellt.
»Immer schön locker bleiben und strahlen«, hatte sie gesagt. »Lassen Sie sich von der Tagung nicht zermürben.«
Kaye fühlte sich wie eine Schaufensterpuppe. Es war ihr alles andere als angenehm.
Um halb sechs fuhr sie mit dem Aufzug ins Erdgeschoss und stieg in den Pendelbus zum Eröffnungsempfang. Die von Americol gesponserte Veranstaltung fand im Zoo von San Diego statt.
Als sie vor dem Zooeingang aus dem Bus stieg, sog sie den Duft von Jasmin und die erdige Feuchte der abendlichen Rasenbewässerung ein. Vor dem Kassenhäuschen stand eine lange Schlange. Sie stellte sich an einem Seiteneingang an und zeigte dem Wächter ihre Einladung.
Vor dem Eingang marschierten vier schwarz gekleidete Frauen mit Transparenten auf und ab. Auf einem der Spruchbänder stand: UNSER KÖRPER, UNSER SCHICKSAL: RETTET UNSERE KINDER.
Drinnen herrschte warmes, magisches Zwielicht. Kaye hatte seit über einem Jahr nichts gehabt, was man als Urlaub hätte bezeichnen können; beim letzten Mal war Saul noch dabei gewesen. Seitdem hatte es nur Arbeit und Kummer gegeben, manchmal auch beides zusammen.
Eine Mitarbeiterin des Zoos übernahm eine Gruppe der AmericolGäste und machte mit ihnen eine kurze Besichtigungsrunde.
Kaye betrachtete kurz die rosa Flamingos, die durch ihren Teich wateten. Sie bewunderte vier hundertjährige Gelbhaubenkakadus, darunter Ramses, das derzeitige Maskottchen des Zoos, der die abziehenden Massen der Tagesbesucher mit schläfriger Gleichgültigkeit betrachtete. Anschließend brachte die Führerin alle zu einem Pavillon in einem von Palmen umgebenen Hof.
Dort spielte eine mittelmäßige Band beliebte Hits aus den Vierzigerjahren, während die Besucher sich Essen auf Pappteller luden und an den Tischen Platz nahmen.
Kaye blieb an einem Büffettisch mit Obst und Gemüse stehen, nahm sich eine großzügige Portion Käse mit Cherrytomaten, Blumenkohl und eingelegten Champignons und bestellte sich an der nicht gesponserten Bar ein Glas Weißwein.
Als sie das Geld für den Wein aus dem Portemonnaie nahm, bemerkte sie aus dem Augenwinkel Christopher Dicken. Er hatte einen großen, schäbig aussehenden Mann im Schlepptau, der eine Jeansjacke und verblichene graue Jeans anhatte und eine abgeschabte Ledertasche unter dem Arm trug. Kaye holte tief Luft, verstaute das Wechselgeld und wandte sich gerade rechtzeitig um, sodass sie Dickens verschwörerischen Blick auffangen konnte. Zur Antwort legte sie den Kopf verstohlen ein wenig schief.
Kaye musste kichern, als Dicken seinen Begleiter am Ärmel zupfte. Wie zufällig schlenderten sie aus dem geschlossenen Innenhof hinaus. Der Zoo war fast leer. »Ich fühle mich richtig gemein«, sagte sie. Sie hatte immer noch ihr Weinglas in der Hand, aber es war ihr gelungen, den Teller loszuwerden. »Was glauben wir eigentlich, was wir hier tun?«
Mitchs Lächeln wirkte wenig überzeugend. Seine Augen, jungenhaft und traurig zugleich, verwirrten sie. Der kleinere, stämmige Dicken wirkte direkter und zugänglicher, und deshalb konzentrierte sie sich auf ihn. Er hatte eine Einkaufstüte dabei und zog daraus schwungvoll einen zusammengefalteten Plan des größten Zoos der Welt hervor.