»Wahrscheinlich sind wir hier, um die Menschheit zu retten«, sagte Dicken. »Da sind kleine Gemeinheiten gerechtfertigt.«
»Mist«, sagte Kaye, »ich dachte, es wäre etwas Vernünftigeres.
Ob uns hier jemand hört?«
Dicken machte eine ausladende Handbewegung in Richtung des im spanischen Stil mit Rundbögen erbauten Reptilienhauses, als schwenke er einen Zauberstab. Auf dem Zoogelände befanden sich nur noch ein paar versprengte Touristen. »Die Luft ist rein«, sagte er.
»Ich meine es ernst, Christopher«, gab Kaye zu bedenken.
»Wenn das FBI die Komodowarane verwanzt oder seine Leute in Hawaiihemden steckt, sind wir erledigt. Mehr kann ich nicht tun.«
Die Brüllaffen quittierten das Schwinden des Tageslichts mit lautem Geschrei. Mitch führte sie auf einem asphaltierten Weg durch einen tropischen Regenwald. Der Weg war von niedrigen Lampen erleuchtet, und über ihnen sprühten die Düsen der Luftbefeuchter. Die angenehme Umgebung tat ihnen allen gut, und keiner wollte den Zauber brechen.
Für Kaye schien Mitch nur aus Armen und Beinen zu bestehen.
Er war der Männertyp, der nicht in geschlossene Räume passt.
Sein Schweigen beunruhigte sie. Er drehte sich um und sah sie mit seinen ruhigen, grünen Augen an. Seine Schuhe fielen ihr auf: Wanderstiefel mit ziemlich abgenutzten dicken Profilsohlen.
Sie lächelte linkisch, und Mitch lächelte zurück.
»Ich bewege mich hier außerhalb meines Reviers«, sagte er.
»Wenn jemand hier das Gespräch beginnen sollte, dann Sie, Ms.
Lang.«
»Aber Sie sind derjenige, der die Erleuchtung hatte«, wandte Dicken ein.
»Wie viel Zeit haben wir?«, fragte Mitch.
»Ich habe heute Abend nichts mehr vor«, erwiderte Kaye. »Bei Marge müssen wir erst morgen früh um acht antreten. Americol gibt ein großes Frühstück.«
Sie fuhren mit der Rolltreppe in eine Schlucht hinunter und blieben an einem Käfig mit zwei schottischen Wildkatzen stehen.
Die wie Haustiere wirkenden gestreiften Katzen wanderten herum und knurrten leise in die Dämmerung.
»Ich bin hier der seltsame Vogel«, sagte Mitch. »Von Mikrobiologie verstehe ich kaum etwas, es reicht knapp, damit ich zurecht komme. Ich bin über etwas Tolles gestolpert, und es hätte um ein Haar mein Leben ruiniert. Ich habe einen schlechten Ruf und bin bekanntermaßen exzentrisch, ein doppelter Verlierer im Wissenschaftsspiel. Wenn Sie klug sind, lassen Sie sich nicht einmal mit mir sehen.«
»Erstaunlich ehrlich«, erwiderte Dicken und hob die Hand.
»Jetzt bin ich dran. Ich habe Krankheiten um die halbe Welt verfolgt. Ich habe ein Gespür dafür, wie sie sich verbreiten, wie sie sich verhalten, wie sie funktionieren. Fast von Anfang an hatte ich den Eindruck, dass ich hinter etwas Neuem her bin. Und bis vor kurzem habe ich versucht, ein Doppelleben zu führen, zwei widersprüchliche Dinge zu glauben. Jetzt kann ich nicht mehr.«
Kaye trank ihr Weinglas in einem Zug leer. »Das klingt, als würden wir ein ZwölfPunkteProgramm abarbeiten«, sagte sie.
»Na gut. Jetzt bin ich an der Reihe. Ich bin eine schüchterne kleine Wissenschaftlerin, die sich aus den ganzen schmutzigen Einzelheiten heraushalten möchte. Deshalb hänge ich mich an jemanden, der mir einen Platz zum Arbeiten gibt und mich beschützt … und jetzt ist es an der Zeit, dass ich selbstständig werde und meine eigenen Entscheidungen treffe. Zeit, erwachsen zu werden.«
»Halleluja«, rief Mitch. »Nur zu, Schwester«, fügte Dicken hinzu. Sie blickte auf und wollte wütend werden, aber die beiden lächelten sie genau auf die richtige Weise an, und zum ersten Mal seit vielen Monaten — seit den letzten schönen Zeiten mit Saul — hatte sie das Gefühl, unter Freunden zu sein.
Dicken griff in die Einkaufstüte und brachte eine Flasche Merlot zum Vorschein. »Die Zoowächter könnten uns einsperren«, sagte er, »aber das hier ist noch unsere geringste Sünde. Manches, was gesagt werden muss, bringen wir vielleicht nur richtig betrunken heraus.«
»Ich nehme an, Sie beide haben Ihre Gedanken schon ausgetauscht«, sagte Mitch zu Kaye, während Dicken den Wein einschenkte. »Ich habe so viel wie irgend möglich gelesen, um fit zu sein, aber ich liege immer noch weit zurück.«
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Kaye. Jetzt, wo sie ein wenig lockerer waren, wühlte die Art, wie Mitch Rafelson sie ansah — direkt, ehrlich, prüfend, ohne dass es besonders auffiel —, in ihr etwas auf, das sie fast für abgestorben gehalten hatte.
»Erzählen Sie doch erst mal, wie Sie sich kennen gelernt haben«, schlug Mitch vor.
»In Georgien«, sagte Kaye.
»Dem Geburtsort des Weines«, fügte Dicken hinzu.
»Wir haben ein Massengrab besichtigt«, sagte Kaye. »Allerdings nicht gemeinsam. Schwangere Frauen und ihre Ehemänner.«
»Kindstötung«, sagte Mitch, und sein Blick verlor plötzlich an Schärfe. »Warum?«
Sie setzten sich an einen Kunststofftisch neben einem geschlossenen Erfrischungsstand tief im Schatten der Schlucht. Im Gebüsch neben dem Asphaltweg hackten rote und braune Hühner.
Eine Raubkatze fletschte in ihrem Käfig die Zähne und knurrte, sodass das Echo schaurig widerhallte.
Mitch holte einen Aktendeckel aus seiner Ledertasche und legte die Papiere ordentlich auf den Kunststofftisch. »Hier fließt alles zusammen.« Er legte eine Hand auf die beiden Blätter zu seiner Rechten. »Das sind die Analysen der University of Washington.
Wendell Packer hat mir erlaubt, sie Ihnen zu zeigen. Aber wenn jemand es ausposaunt, sitzen wir alle ganz schön im Schlamassel.«
»Was für Analysen?«, fragte Kaye.
»Die Genetik der Mumien von Innsbruck. Zwei Sätze von Befunden über die Gewebeproben, aus zwei verschiedenen Labors an der University of Washington. Ich habe Wendell Packer Proben von den beiden Erwachsenen gegeben. Und wie sich dann herausstellte, hatten die Leute in Innsbruck schon Proben an Maria Konig in demselben Institut geschickt. Wendell konnte die Ergebnisse vergleichen.«
»Und was haben sie festgestellt?«, wollte Kaye wissen. »Die drei Leichen waren tatsächlich eine Familie. Mutter, Vater, Tochter.
Aber das wusste ich schon — ich habe alle drei in der Höhle in den Alpen gesehen.«
Kaye runzelte verwundert die Stirn. »Ich kann mich an die Geschichte erinnern. Sie sind auf den Wunsch von zwei Bekannten hin in die Höhle gegangen … haben die Fundstätte beschädigt … und die Frau, die bei Ihnen war, hat das Kind im Rucksack mitgenommen?«
Mitch blickte mit angespannten Kiefermuskeln zur Seite. »Ich kann Ihnen erzählen, wie es wirklich war«, sagte er.
»Schon gut«, sagte Kaye, plötzlich misstrauisch geworden.
»Nur zur Klarstellung«, beharrte Mitch. »Wenn wir weitermachen wollen, müssen wir einander trauen.«
»Dann erzählen Sie weiter«, sagte Kaye.
Mitch schilderte die Ereignisse in Kurzform. »Es war ein einziges Durcheinander«, schloss er.
Dicken sah die beiden mit verschränkten Armen aufmerksam an.
Kaye nutzte die Pause und überflog die auf dem Tisch ausgebreiteten Analyseergebnisse. Dabei achtete sie darauf, dass die Papiere keine Flecken von altem Ketchup bekamen. Sie studierte die Radiokarbondatierung, den Vergleich der genetischen Marker und schließlich Packers positiven SHEVANachweis.
»Packer behauptet, SHEVA habe sich in den letzten fünfzehntausend Jahren kaum verändert«, sagte Mitch. »Er findet das erstaunlich, wenn es nur DNASchrott ist.«
»Schrott ist es wohl kaum«, erwiderte Kaye. »Die Gene sind seit bis zu dreißig Millionen Jahren gleich geblieben. Sie werden ständig aufgefrischt, überprüft, konserviert … eingeschlossen im dicht gepackten Chromatin, geschützt von einer Isolierschicht … es muss so sein.«
»Wenn Sie beide Nachsicht mit mir haben, sage ich Ihnen, was ich glaube«, sagte Mitch mit einem Hauch von Wagemut und Schüchternheit, den Kaye verwirrend und zugleich reizvoll fand.