»Nur zu«, sagte sie.
»Es war ein Fall von Unterartenbildung. Nichts Extremes. Kleiner Anstoß in Richtung einer neuen Varietät. Ein Säugling des modernen Typus, zur Welt gebracht von Neandertalern im Spätstadium.«
»Eher wie wir«, warf Kaye ein.
»Richtig. Vor ein paar Wochen war ein Journalist namens Oliver Merton im Staat Washington. Er recherchiert wegen der Mumien und hat mir erzählt, es habe an der Universität Innsbruck heftigen Streit gegeben …« Mitch blickte auf und sah, wie überrascht Kaye war.
»Oliver Merton?«, fragte sie mit gerunzelter Stirn. »Im Auftrag von Nature?«
»Damals beim Economist«, erwiderte Mitch.
Kaye wandte sich zu Dicken. »Derselbe?«
»Allerdings. Er macht Wissenschaftsjournalismus und ein bisschen politische Berichterstattung. Hat ein oder zwei Bücher geschrieben.« Er erklärte es Mitch: »Merton hat auf einer Pressekonferenz in Baltimore ganz schön Staub aufgewirbelt. Er ist ziemlich tief in die Beziehungen zwischen Americol, den CDC und der ganzen SHEVAFrage eingedrungen.«
»Vielleicht sind das zwei verschiedene Geschichten«, meinte Mitch.
»Eigentlich muss es so ein, oder?«, fragte Kaye und blickte zwischen den beiden Männern hin und her. »Die Einzigen, die einen Zusammenhang hergestellt haben, sind doch wir, stimmt’s?«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Dicken. »Weiter, Mitch.
Nehmen wir mal an, dass es einen Zusammenhang gibt, und zanken wir uns nicht über Außenstehende. Worüber haben sie in Innsbruck gestritten?«
»Merton sagt, sie hätten die Verwandtschaft zwischen dem Säugling und den Erwachsenen nachgewiesen — das bestätigt auch Packer.«
»Es ist schon witzig«, sagte Dicken. »Die UN haben auch die Proben aus Gordi an Konigs Labor geschickt.«
»Die Anthropologen in Innsbruck sind ziemlich konservativ«, fuhr Mitch fort. »Und dann stoßen ausgerechnet sie auf den ersten direkten Beleg für Artbildung bei Menschen …« Er schüttelte mitfühlend den Kopf. »Ich an ihrer Stelle hätte Angst. Die geltende Lehre verändert sich nicht nur — sie geht regelrecht in die Brüche.
Ohne Gradualismus keine moderne darwinistische Synthese.«
»So radikal brauchen wir gar nicht zu werden«, sagte Dicken.
»Zunächst einmal wird schon seit langem viel über Unterbrechungen bei den Fossilfunden geredet — Jahrmillionen langer Stillstand, dann plötzlicher Wandel.«
»Wandel im Laufe von einer Million oder hunderttausend Jahren, in manchen Fällen vielleicht auch nur zehntausend«, sagte Mitch.
»Aber nicht über Nacht. Die Folgerungen sind für jeden Wissenschaftler verdammt beängstigend. Aber genetische Marker lügen nicht. Und die Eltern des Kindes hatten SHEVA im Gewebe.«
»Hm«, sagte Kaye. Die Brüllaffen legten wieder los und füllten die Nachtluft mit stetigem, melodischem Schreien.
»Die Frau wurde durch einen spitzen Gegenstand verwundet, vielleicht durch eine Speerspitze«, sagte Dicken.
»Richtig«, erwiderte Mitch, »und das führte dazu, dass das fast ausgereifte Kind entweder tot oder so gut wie tot geboren wurde.
Kurz danach starb die Mutter, und der Vater …« Seine Stimme versagte. »Entschuldigung. Es fällt mir nicht leicht, darüber zu reden.«
»Sie haben Mitleid mit ihnen«, sagte Kaye.
Mitch nickte. »Ich habe ihretwegen schon seltsame Träume gehabt.«
»Außersinnliche Wahrnehmung?«, fragte Kaye.
»Das glaube ich nicht. Mein Geist arbeitet einfach so — er fügt die Dinge zusammen.«
»Sie glauben, die beiden wurden von ihrem Stamm ausgestoßen?«, fragte Dicken. »Verfolgt?«
»Irgendjemand wollte die Frau umbringen«, erwiderte Mitch.
»Der Mann ist bei ihr geblieben und hat versucht, sie zu retten.
Sie waren anders. Mit ihren Gesichtern stimmte etwas nicht. Kleine Hautlappen um Augen und Nase, fast wie Masken.«
»Sie haben sich gehäutet? Ich meine, als sie noch am Leben waren?«, fragte Kaye, und ihre Schultern schüttelten sich.
»Um die Augen, im Gesicht.«
»Die Leichen bei Gordi«, sagte Kaye.
»Was ist damit?«, fragte Dicken.
»Manche von ihnen hatten kleine Masken auf, wie aus Leder.
Ich dachte, es wäre vielleicht … ein seltsames Verwesungsprodukt.
Aber ich habe so etwas sonst noch nie gesehen.«
»Wir greifen vor«, bemerkte Dicken. »Bleiben wir erst mal bei Mitchs Beweisen.«
»Das ist alles«, erwiderte Mitch. »So große physiologische Veränderungen, dass das Kind in eine andere Unterart gehört, und alles auf einmal. In einer einzigen Generation.«
»Das gleiche muss sich schon vor Ihren Mumien hunderttausend Jahre lang abgespielt haben«, sagte Dicken. »Immerhin lebten Neandertaler doch mit oder neben den Populationen der Jetztmenschen.«
»Ich denke schon«, bestätigte Mitch.
»Glauben Sie, dass die Geburt eine Anomalie war?«, fragte Kaye.
Mitch sah sie mehrere Sekunden lang an und erwiderte dann:
»Nein.«
»Wäre es dann eine vernünftige Schlussfolgerung, dass Sie nichts Einzigartiges, sondern etwas durchaus Repräsentatives gefunden haben?«
»Schon möglich.«
Kaye hob aufgebracht die Hände.
»Sehen Sie«, erklärte Mitch, »mein Gespür ist konservativ. Ich habe Mitleid mit den Leuten in Innsbruck, wirklich! Das Ganze ist seltsam und kommt völlig unerwartet.«
»Haben wir bei den Fossilfunden einen glatten, allmählichen Übergang von den Neandertalern zu den CromagnonMenschen?«, fragte Dicken.
»Nein, aber wir kennen mehrere Stadien. Bei Fossilfunden sind die Übergänge meistens alles andere als glatt.«
»Und … das liegt daran, dass man nicht alle erforderlichen Exemplare findet, stimmt’s?«
»Richtig«, erwiderte Mitch, »aber ein paar Paläontologen liegen schon seit langem mit den Gradualisten im Streit.«
»Weil sie keine bruchlosen Übergänge finden, sondern Sprünge«, fügte Kaye hinzu. »Und zwar auch dann, wenn die Fossilfunde besser sind als bei Menschen oder großen Tieren.«
Nachdenklich nahmen sie einen Schluck aus den Gläsern.
»Und was tun wir jetzt?«, fragte Mitch. »Die Mumien hatten SHEVA. Wir haben SHEVA.«
»Jetzt wird es kompliziert«, sagte Kaye. »Wer will als Erster?«
»Schreiben wir mal auf, was sich unserer Meinung nach zurzeit abspielt.« Mitch griff in seine Tasche und brachte drei Schreibblöcke mit Kugelschreibern zum Vorschein. Er verteilte sie auf dem Tisch.
»Wie die Schulkinder?«, fragte Dicken.
»Mitch hat Recht. Machen wir es ruhig«, sagte Kaye.
Dicken zog eine zweite Flasche Wein aus der Einkaufstüte und entkorkte sie.
Kaye hielt die Kappe ihres Schreibstiftes zwischen den Lippen.
Seit zehn oder fünfzehn Minuten schrieben sie, blätterten die Seiten der Blöcke um und stellten Fragen. Allmählich wurde es eisig kalt.
»Die Party ist bald zu Ende«, sagte sie.
»Keine Sorge«, erwiderte Mitch, »wir sind ja bei Ihnen.«
Sie lächelte wehmütig. »Zwei halb betrunkene Männer, denen vor lauter Theorien schwindelig ist?«
»Genau«, sagte Mitch.
Kaye hatte sich bemüht, ihn nicht anzusehen. Was sie empfand, war weder wissenschaftlicher noch beruflicher Natur. Ihre Gedanken niederzuschreiben, war nicht einfach. So hatte sie noch nie gearbeitet, nicht einmal mit Saul; sie hatten gemeinsame Notizbücher geführt, aber keiner hatte die unfertigen Notizen des anderen gesehen.
Durch den Wein war sie etwas lockerer geworden; die Anspannung war zum Teil gewichen, aber der Klarheit ihrer Gedanken diente es nicht. Sie kam nicht mehr weiter. Bisher hatte sie geschrieben: